Chatkontrolle: Juristischer Dienst soll der EU-Kommission auf den Zahn fühlen

EU-Abgeordnete sind empört über den mutmaßlichen Einfluss von Ashton Kutchers Organisation Thorn und weiterer Akteure auf EU-Innenkommissarin Ylva Johansson.

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Eingang der EU-Kommission

(Bild: Andrey_Kuzmin/Shutterstock.com)

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Nach Medienberichten über Interessenkonflikte bei der Ausarbeitung des umkämpften Entwurfs der EU-Kommission für eine Verordnung zur Online-Überwachung unter dem Aufhänger des Kampfs gegen sexuellen Kindesmissbrauch fordern Mitglieder des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des EU-Parlaments Konsequenzen. Der Juristische Dienst solle prüfen, ob die zuständige Innenkommissarin Ylva Johansson ihre Pflicht zur Neutralität derart verlassen und "gezielt in den Gesetzgebungsprozess eingreifen darf", berichtete Patrick Breyer (Piratenpartei) am Dienstag bei einer Online-Debatte der Bürgerrechtsorganisation Digitalcourage von einem entsprechenden Beschluss.

An die Rechtsberater der Abgeordneten sei auch die Bitte gegangen zu klären, ob Johansson wegen ihrer "Desinformationskampagne" zur Chatkontrolle vor Gericht verklagt werden könne. Die "Big Sister", die sich als "Überzeugungstäterin" immer wieder für mehr Überwachung starkmache, müsse "für diese Machenschaften zur Rechenschaft" gezogen werden, weil es um die Demokratie gehe. Die gesamte Kommission habe unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU) "systematisch auf den Grundrechtsabbau hingewirkt" und etwa auch eine "Going Dark"-Arbeitsgruppe eingerichtet, um sichere Verschlüsselung auch anderweitig auszuhebeln.

Stein des Anstoßes sind Recherchen, wonach neben Hollywood-Schauspieler Ashton Kutcher und seiner Organisation Thorn nebst deren kommerziellen Ableger Safer ein ganzes Netzwerk für die Chatkontrolle in Brüssel lobbyiert. Diesem soll etwa auch die WeProtect Global Alliance angehören, die mehr als 24 Millionen US-Dollar in das Anliegen zum Scannen von Online-Verkehr auf Missbrauchsmaterial hin gesteckt habe. Johansson reagierte auf die Enthüllungen unter anderem mit einer Online-Werbekampagne in einzelnen Ländern mit kritischer Einstellung zu dem Vorhaben, bei der Zielgruppen per Mikro-Targeting direkt angesprochen wurden. Die Kommission will eigentlich gegen solche Praktiken in der politischen Kommunikation vorgehen. Auch im Digital Services Act (DSA) gibt es dazu bereits Vorgaben.

Die Kommissarin argumentiere dabei mit Umfragen, "die völlig unseriös sind" und mache einen Zeitdruck, der "nicht haltbar ist", kontert Breyer. Die Volksvertreter hätten Johansson vor einer Aussprache im LIBE-Ausschuss am Mittwoch auch gebeten, Dokumente aus dem Austausch mit dem Lobby-Netzwerk herauszugeben. Die Schwedin halte Briefe der US-Stiftung Thorn aber just mit dem Verweis darauf zurück, dass diese "kommerzielle Interessen" berührten. Das alles lese sich "wie aus einem schlechten Agententhriller" mit der Einflussnahme von Schweizer Stiftungen und von Ex-EU-Beamten gesteuerten Einrichtungen. Offenbar seien ganze Betroffenenorganisationen mit Millionenspritzen aus dem Boden gestampft worden.

Sie habe es bei dem Dossier "von Anfang an erschreckend" empfunden, dass es nie um Details gegangen sei, wie die von der Kommission vorgeschlagenen "Aufdeckungsanordnungen" praktisch funktionieren könnten, berichtete die SPD-Abgeordnete Birgit Sippel. Vielmehr habe die Brüsseler Regierungsinstitution das Thema mit Verweisen auf Millionen Missbrauchsbilder und "die armen Kinder" emotionalisiert, um es mit Gewalt durchzudrücken. Dabei wecke der Entwurf eine Erwartungshaltung, "die er schon von Idee her nicht erfüllen kann". Selbst Strafverfolger sagten, dass sie mit Daten überschwemmt würden und auch beim Einsatz automatisierter Auswerteinstrumente die Rate falscher Alarme viel zu hoch wäre. Betroffen wären etwa auch "zwei 16-Jährige", die im Einvernehmen Nacktbilder austauschen und so online ihre eigene Identität entwickelten.

In der analogen Welt kommt Sippel zufolge niemand auf Idee: In einzelnen Bundesländern gebe es Pädophile, deswegen "gehen wir in jeden Haushalt und gucken‚ was dort passiert". Online solle aber genau das passieren, indem der Staat in jegliche Kommunikation reingehe. Völlig fehle in dem Entwurf der ganze Bereich der Prävention: "Wie führen wir Kinder und Jugendliche an die bewusste Nutzung von Online-Services heran", damit sie Gefahren besser erkennen könnten? Ansätze für gezielte polizeiliche Ermittlungen und die dafür erforderlichen Ressourcen blieben ebenfalls außen vor. Auch andere Teile des Vorhabens wie Websperren und Alterskontrollen seien keinesfalls zielführend.

Als grundsätzliches Problem beim Kommissionsansatz machte auch Moritz Körner (FDP) aus, dass dieser zu viel auf Massenüberwachung und zu wenig auf individuelle Ermittlungen setze. Dass Johansson die ganze Kritik nun wie eine Art "Fake News" wegwische, spreche nicht für einen sachgemäßen Umgang mit der Medienfreiheit. Wenn die Kommissarin nicht reinen Tisch mache, müsse das Folgen haben.

Sie habe sich angesichts der Berichte über das Lobbygeflecht "wie im falschen Film" gefühlt, schlug die Linke Cornelia Ernst in die gleiche Kerbe. Aus dem Entwurf triefe überall diese Einflussnahme durch. Dennoch greife Johansson nun zu der Lüge, dass diese die normale Praxis der Gesetzgebung sei. Dieser Skandal müsse aufgeklärt werden. Alles spreche für einen "ziemlichen Bruch mit den Regeln, die wir uns auf europäischer Ebene vorgenommen haben". Generell lenke die Chatkontrolle nur ab: "Wir bekommen weniger Ergebnisse." Elina Eickstädt vom Chaos Computer Club (CCC) assistierte: Es handle sich um einen Versuch, ein "sehr komplexes gesellschaftliches Problem mit einer Technologie zu erschlagen, die es grundsätzlich einfach nicht gibt".

Die Innenpolitiker des Parlaments wollten ihre Position eigentlich am Donnerstag festlegen, doch der Zeitplan war nicht zu halten. Nun soll die Abstimmung am 13. November stattfinden. Laut dem Portal Euractiv haben sich Vertreter der großen Fraktionen mittlerweile auf einen Kompromissansatz geeinigt. Demnach soll es zwar bei Aufdeckungsanordnungen und den damit verknüpften Problemen für eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bleiben. Die Chatkontrolle dürfe sich aber nur gegen bestimmte Benutzergruppen wie "Abonnenten eines bestimmten Kommunikationskanals" richten. Ferner müssten "begründete Verdachtsmomente" für einen Zusammenhang mit Kindesmissbrauch vorliegen. Vorgesehen seien auch unabhängige Audits. Das skizzierte EU-Zentrum soll zudem nicht mehr zwangsweise bei Europol angesiedelt werden.

(mho)