Alltag in Atomruinen

Knapp ein Jahr nach der Atomkatastroph hat die japanische Regierung ausländischen Journalisten erstmals erlaubt, das havarierte japanische Atomkraftwerk Fukushima 1 zu besuchen. TR-Autor Martin Kölling war mit dabei.

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Von
  • Martin Kölling

Erstmals hat die japanische Regierung ausländischen Journalisten erlaubt, das havarierte japanische Atomkraftwerk Fukushima 1 zu besuchen. TR-Autor Martin Kölling war mit dabei.

Der Arbeitstag beginnt auf dem Fußballplatz. Im "J-Village", einem ehemaligen Trainingszentrum des japanischen Fußballbunds, das etwa 20 Kilometer südlich des havarierten Atomkraftwerks Fukushima liegt, bereiten sich Arbeiter auf ihren Einsatz vor. Nach dem am 11. März 2011 ein Mega-Erdbeben gemeinsam mit einem Riesentsunami die Atomkatastrophe von Fukushima ausgelöst hatte, wurde das Zentrum zur riesigen Umkleidekabine für die 3000 Arbeiter umfunktioniert, die nun täglich auf dem AKW-Gelände ihre Dienst tun. Die Kunstrasenplätze sind mit Wohn- und Bürocontainer, Ganzkörper-Strahlenmessgeräten und Kraftwagen zugestellt. Im Hauptgebäude erinnern nur die Fähnchen des Fußballverbands und Poster der Stars noch daran, dass hier früher Japans Kicker ihre Trikots tauschten.

Inzwischen herrscht hier Strahlenschutzroutine. Für die Arbeiter beginnt der Tag in regelmäßigen Abständen mit einem Besuch des Ganzkörper-Strahlenmessers. Rund zehn Geräte sind auf einem mit einem Kuppelzelt überdachten Nebenplatz aufgebaut – mit Liebe zum Detail: Kleine Blümchensträuße dekorieren die beigen Maschinen, in denen die Arbeiter für eine Minute Platz nehmen müssen. Dann erhalten sie einen Zettel, auf dem steht, wie viel Strahlung ihr Körper ausgesendet hat – in meinem Fall war der Wert vor dem Besuch des AKW höher als nachher, soviel zum Thema Messgenauigkeit.

Dann legen sie Schutzkleidung an: Ein weißes Baumwollkäppchen für den Kopf und ein weißer Kapuzenanzug aus einen dünnen synthetischem Material für den Körper. Auf den Anzug müssen die Arbeiter den Namen ihrer Firma, ihren Namen und die Nummer auf ihrem Arbeitsausweis schreiben, denn in der Schutzkleidung kann man niemanden mehr erkennen. Über die Füße werden zwei Paar Plastiküberzüge gestreift. Zuerst wird ein kniehoher angezogen und festgeklebt, danach ein kleinerer. Der kleinere muss immer abgestreift werden, wenn man im AKW ein Gebäude betritt. Damit soll vermieden werden, dass radioaktive Partikel ins Gebäudeinnere geschleppt werden.

Auch für die Hände gilt das Zwiebelprinzip. Die erste Schicht bilden Baumwollhandschuhe ähnlich denen, wie auch japanische Taxifahrer sie tragen. Darüber werden ein, beim Einsatz unter freiem Himmel sogar zwei Latexhandschuhe gezogen. Vervollständigt wird die Ausrüstung durch ein Dosimeter, eine Operationsmaske für die Fahrt zum AKW und eine richtige Atemmaske mit Filter, die das Gesicht abdeckt, für den Aufenthalt an der zwar frischen, aber strahlenden Luft auf dem AKW-Gelände.

Vor der Abfahrt zum AKW.

Dann geht es los zur Arbeit – mit dem Bus oder mit dem eigenen oder dem Firmen-Pkw. Die Gruppe der Journalisten, mit der ich reise, wird in einen alten Bus geladen. Die Plüschsitze sind mit rosa Plastikplanen abgedeckt.

Wir passieren gemeinsam mit den Arbeitern den Polizei-Checkpoint an der Grenze zum Evakuierungsbezirk. Die Fahrt führt durch menschenleere Ortschaften. Die Dosimeter haben immer mehr Strahlung aufzuzeichnen, je näher wir dem AKW kommen. Drei Kilometer südlich des AKW steigt der Wert auf 7 Mikrosievert pro Stunde. Am Beginn der Zufahrtsstraße rund einen Kilometer vom Haupttor liegt der Wert bei 35 Mikrosievert pro Stunde. Kurz hinter dem Tor sind es nur 10 Mikrosievert pro Stunde. Auf dem Gelände gehen die Werte dann kunterbunt durcheinander. Die meiste Strahlung trommelt auf uns ein, als wir mit dem Bus seeseitig an Reaktor 3 vorbeihuschen: 1500 Mikrosievert pro Stunde. Das entspricht einer Jahresdosis von 8760 Millisievert. Der Schwellenwert für eine Zwangsevakuierung liegt bei 20 Millisievert pro Jahr.

Dementsprechend wohldosiert gehen die Arbeiter ihrer Arbeit nach. Wer Verwaltungs- oder Managementaufgaben ausübt, darf ins erdbebensichere Lagezentrum auf dem AKW. Dort ist die Belastung dank strikter Kontrolle und Luftfiltern so gering, dass niemand Strahlenanzüge tragen muss und es keine zeitliche Aufenthaltsbefristung gibt. Dafür wird großer Aufwand betrieben. Der Zugang erfolgt durch einen Containertunnel, der ausgetauscht werden kann, wenn er zu stark zu strahlen beginnt. Und die Flure sind allesamt mit der gleichen rosa Folie ausgeschlagen wie der Bus. Nun werden sogar die Fenster mit neuen Bleiplatten abgehängt, um die Strahlung noch weiter zu drücken. Denn die Krisenmanager wollen das Gebäude im April zur nicht-radioaktivitätskontrollierten Zone erklären. Innen geht es bereits menschlich zu. Collagen und Gemälde von Schulkindern an den Wänden muntern die Retter von Fukushima auf, durchzuhalten.

Außerhalb des Gebäudes schwanken die Arbeitszeiten in der Regel zwischen zweimal zwei Stunden täglich und zwei Minuten in hochradioaktiven Bereichen, erzählt Katsuhiko Iwaki, stellvertrendender Superintendent des "Stabilisierungszentrums im AKW Fukushima 1" von Tokios Stromversorger Tepco. Die Arbeitszeit kann ein bisschen durch weitere Schutzanzüge verlängert werden. Weiße Regenjacken bringen ein bisschen, die etwas dickeren gelben Regenjacken ein bisschen mehr. Und wenn die Strahlung richtig hart ist, wird den Arbeitern schon mal ein metallischer Anzug aus Wolframgewebe spendiert, erzählt Iwaki. Wirklich hochradioaktive Bereiche werden gar nicht betreten – wie der dritte von den sechs Meilern des Atomkraftwerks, an dem die Pressetour die höchste Strahlung gemessen hat. "Wir wissen noch immer nicht genau, wie hoch die Strahlung innen ist", sagt Iwaki.

Die Strahlungskarte, die TR-Autor Martin Kölling ausgehändigt bekam.

Nach der Arbeit geht es zurück zum Fußballplatz. Am Eingang wird die Schutzkleidung entsorgt. Dann werden die Arbeiter durch einen weiteren Ganzkörper-Scanner geschleust, der misst, ob sie verstrahlt worden sind. Danach geben sie ihre Dosimeter ab. Theoretisch darf, wer in fünf Jahren mehr als 100 Millisievert ausgesetzt war, nicht mehr in Atomkraftwerken arbeiten.

Die Strahlenkontrolle ist das A und O der Arbeit, erzählt Yuichito Kitazato von der Firma Atox, der für die Dekontaminierung des Kühlwassers zuständig ist. Die Arbeit in der Schutzmontursei zwar anstrengend und gefährlich, sagt er. "Doch sie ist nicht so gefährlich, wenn man den Regeln folgt. Wir achten sehr auf Strahlenkontrolle."

Wie gut diese Kontrolle in Fukushima funktioniert, wird allerdings immer wieder öffentlich angezweifelt. Zu Beginn der Arbeiten gab es nicht genug Dosimeter und erst recht keine Ganzkörpermessegeräte. Bewerber wurden zudem ohne gründlichen Hintergrundcheck angeheuert. Zudem werden viele Arbeiter durch die Yakuza, Japans Form des organisierten Verbrechens, vermittelt, berichtet der japanische investigative Journalist Tomohiro Suzuki. Oft handele es sich um Obdachlose, Japaner, die bei der Yakuza hochverschuldet sind oder Yakuza-Mitglieder selbst. In Japan gibt es wenige, die an seinen Angaben zweifeln. Denn die Yakuza ist seit langem als Arbeitsvermittler für Arbeiten bekannt, die dreckig oder gefährlich sind.

Dass am AKW die Arbeit ausgeht, ist nicht zu befürchten. Iwaki glaubt zwar, dass die Zahl der Arbeiter bald schon gesenkt werden kann. Aber es bleibt genug zu tun für die kommenden Jahrzehnte. Denn die Anlage wird noch für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte eine nukleare Zeitbombe bleiben. Der Chef des AKWs Takeshi Takahashi glaubt zwar, dass die Lage "relativ stabil" sei. Die Temperatur liegt nach Angaben von Tepco in den Reaktoren 1 bis 3 und im prall mit Brennstäben gefüllten Abklingbecken von Reaktor 4 seit Monaten unter 100 Grad Celsius, die Kühlung und die Dekontaminierung des Wassers funktioniere. Und die Systeme werden immer krisensicherer gemacht, so Takahashi. Aber er gesteht: "Ich kann nicht sagen, dass es keine Probleme gibt."

Immer wieder kommt es zu Lecks wie im Winter, als der Frost an zig Stellen im AKW Rohre platzen ließ. Doch seine größte Sorge sind weitere Erdbeben oder gar ein weiterer großer Tsunami. Denn die Gebäude sind nur noch eingeschränkt als erdbebensicher zu bezeichnen wie ein Blick auf die Ruinen auch Laien eindrucksvoll zeigt. Von einer Düne in 32 Meter Höhe südlich von Rekator 4 dürfen wir für 15 Minuten die vier Krisenmeiler überblicken. Die Strahlendosis beträgt hier 45 Mikrosievert pro Stunde.

Die vollständige Schutzkleidung.

Wir sehen einen bereits überdachten Reaktor 1. Das Gebäude von Reaktor 2 sieht zwar von außen noch heil aus, aber innen ist viel zerstört und die Strahlung hoch. Die Retter kämpfen mit Roboter- und Menschenhand darum, den Schutt zu beseitigen. Reaktor 3 sieht am schlimmsten aus. Reaktor 4 ein bisschen besser. Dort sehen wir Arbeiter am Abklingbecken herumkraxeln. Auch wenn wir es nicht erkennen, der Reaktor wurde bereits baulich verstärkt. Denn es besteht die Gefahr, dass mehrere Tonnen an Brennelemente aus dem rund 20 Meter hoch gelegenen Abklingbecken den Rettern vor die Füße purzeln, wenn ein Erdbeben das Betonbecken knacken sollte. Mit dem freiliegenden Brennstoff hätte Japan den Super-Gau, der dem Land bisher erspart geblieben ist.

Akut bereitet den Rettern besonders Reaktor 3 Kopfzerbrechen, sagt Iwaki. Weil die Schäden so schwer und die Strahlung so hoch sei, müsse zuerst eine neue Struktur um die Ruine gebaut werden. Dazu müsse ferngesteuertes Gerät eingesetzt werden. Erst dann könne der Abbau der Trümmer begonnen werden. "Bis wir an den nuklearen Brennstoff rankommen, wird noch eine lange Zeit vergehen", sagt Iwaki.

Wie die geschmolzenen Brennelemente in den Reaktoren 1 bis 3 beseitigt werden, ist noch unklar. Im Prinzip werde wahrscheinlich ein ähnliches Konzept angewendet werden wie im havarierten US-AKW Three-Mile-Island, sagt AKW-Chef Takahashi. Der Brennstoff würde wahrscheinlich unter Wasser klein geschnitten und Stück für Stück geborgen werden. Allerdings müsse das Grundkonzept an die Gegebenheiten in Fukushima angepasst werden. Dafür wird Technik benötigt, deren Entwicklung erst jetzt beginnt.

Die Reparaturen und der Abbau der Reaktoren wird selbst nach dem offiziellen Plan 30 bis 40 Jahre in Anspruch nehmen. Mein Dosimeter zeigte am Ende des etwa dreistündigen Aufenthalts auf dem Kraftwerksgelände eine Strahlendosis von 41 Mikrosievert an. Die Werte der anderen Teilnehmer lagen ähnlich hoch. ()