Large Hadron Collider: Supersymmetrie auf dem Prüfstand

Zwar bestätigen Experimente das Standardmodell der Teilchenphysik, aber nicht auf alle Fragen hat es Antworten. Die könnte die Supersymmetrie liefern.

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(Bild: ATLAS Experiment © 2020 CERN)

Lesezeit: 18 Min.
Von
  • Michael Krämer
  • Jeanette Lorenz
  • Isabell Melzer-Pellmann
Inhaltsverzeichnis

Das Standardmodell der Teilchenphysik wurde wiederholt in Messungen bestätigt, hat aber auf einige fundamentale Fragen keine Antwort. Diese könnte möglicherweise die Supersymmetrie liefern. Daher zielen die LHC-Experimente auf die Suche nach supersymmetrischen Teilchen ab. Die Analysen sind außerordentlich vielfältig und sensitiv auf andere Erweiterungen des Standardmodells. In den letzten Jahren gelangen erstmalig sehr schwierige Suchen, etwa nach den supersymmetrischen Partnern des Higgs-Bosons.

Aus dem Wechselspiel experimenteller Ergebnisse und theoretischer Konzepte entstand in mehr als 50 Jahren das Standardmodell der Teilchenphysik, das die Struktur der Materie und die fundamentalen Wechselwirkungen auf mikroskopischen Längenskalen von bis zu 10-19 Metern bzw. Energien von bis zu einem Teraelektronenvolt (TeV) beschreibt – ein Elektronenvolt (eV) entspricht der Energie, die ein Elektron gewinnt, wenn es auf einer Strecke von einem Meter in einem Potential von einem Volt beschleunigt wird. Ein zentraler Baustein ist der Higgs-Mechanismus, durch den die Elementarteilchen ihre Masse erhalten. Mit der Entdeckung eines Higgs-Teilchens am Large Hadron Collider (LHC) am CERN im Jahr 2012 und der damit möglichen Erforschung des Higgs-Mechanismus begann ein neues Kapitel der Grundlagenforschung.

Diese Artikel wurde zuerst abgedruckt im Physik Journal 11, 2020.

Die Autoren

Michael Krämer hat an der Universität Mainz Physik studiert und promoviert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am DESY in Hamburg, am Rutherford Appleton Laboratory in Oxfordshire und am CERN in Genf sowie Lecturer und Reader an der Universität Edinburgh. Seit 2004 ist er Professor für Theoretische Physik an der RWTH Aachen.

Jeanette Lorenz (FV Teilchenphysik) hat in Erlangen und an der LMU München Physik studiert und Promotion sowie Habilitation an der LMU München abgeschlossen. Seit 2015 leitet sie eine Nachwuchsgruppe an der LMU München. Sie ist Mitglied der ATLAS-Kollaboration und leitet dort seit 2020 die Aktivitäten zur Interpretation der Suchen nach Supersymmetrie, zuvor die Suchen nach Gluinos und Squarks.

Isabell Melzer-Pellmann (FV Teilchenphysik) studierte Physik in Münster und promovierte an der Universität Mainz. Von 2009 bis 2014 leitete sie eine Nachwuchsgruppe am DESY und an der U Hamburg, seitdem gehört sie zur Belegschaft des DESY. Sie ist Mitglied der CMS-Kollaboration, wo sie seit 2013 verschiedene Aktivitäten zu aktuellen und zukünftigen SUSY-Suchen geleitet hat.

Das Standardmodell ist eine Quantenfeldtheorie, deren Struktur durch Symmetrien bestimmt wird: die Poincaré-Symmetrie, die als Raum-Zeit-Symmetrie aus der speziellen Relativitätstheorie folgt, sowie Symmetrien der inneren Freiheitsgrade von Elementarteilchen, die Eichsymmetrien. Die Vorhersagen des Standardmodells wurden zwar in zahlreichen Experimenten eindrucksvoll bestätigt, einige fundamentale Fragen der Physik kann es jedoch nicht beantworten: Was ist die Natur der Dunklen Materie? Wie entstand die Materie-Antimaterie-Asymmetrie? Was ist der Ursprung der Neutrinomassen? Diese Fragen stehen im Zentrum der aktuellen Grundlagenforschung und erfordern neue theoretische Konzepte.

Einer der interessantesten Ansätze, um das Standardmodell zu erweitern, ist die Supersymmetrie. Sie impliziert eine faszinierende Erweiterung von Raum und Zeit, indem sie diese mit der Quanteneigenschaft Spin verknüpft und so eine Beziehung zwischen Materieteilchen mit halbzahligem Spin (Fermionen) und Kraftteilchen mit ganzzahligem Spin (Bosonen) herstellt. Diese Verknüpfung stellt die einzig mögliche Erweiterung der Poincaré-Symmetrie dar.

In supersymmetrischen Theorien besitzt jedes fundamentale Teilchen einen supersymmetrischen Partner, dessen Spin sich um 1/2 unterscheidet. Zum Elektron gehört also ein supersymmetrisches Elektron mit Spin 0 (meist mit ẽ bezeichnet), zum Photon ein supersymmetrisches Photon mit Spin 1/2 (ỹ). Selbst eine minimale supersymmetrische Erweiterung des Standardmodells sagt somit eine Vielzahl neuer Teilchen vorher.

Supersymmetrie

Die Supersymmetrie lässt sich als allgemeines theoretisches Konzept auf vielfältige Weise in konkreten Modellen realisieren. Die supersymmetrische Erweiterung des Standardmodells mit der kleinsten Zahl neuer Teilchen ist das Minimale Supersymmetrische Standardmodell (MSSM). Darin wird das Standardmodell um ein weiteres Higgs-Dublett erweitert und jedem Teilchen ein Superpartner zugeordnet.

Die Erhaltung der Baryonenzahl, einer Quantenzahl proportional zur Differenz der Anzahl von Quarks und Antiquarks, führt im Standardmodell zur Stabilität von Protonen. In supersymmetrischen Erweiterungen des Standardmodells sind baryonzahlverletzende Prozesse nicht notwendigerweise unterdrückt und können zu schnellem Protonenzerfall führen. Im MSSM ist der Protonenzerfall durch das Postulat einer zusätzlichen Symmetrie – der R-Parität – unterdrückt. Deren Erhaltung beeinflusst die Phänomenologie des MSSM: Zum einen können supersymmetrische Teilchen nur in Paaren entstehen, zum anderen ist das leichteste supersymmetrische Teilchen stabil und somit ein Kandidat für Dunkle Materie. In supersymmetrischen Modellen ohne Erhaltung der R-Parität zerfällt das leichteste supersymmetrische Teilchen, was andere experimentelle Signaturen erwarten lässt. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf die Suche nach Supersymmetrie im Rahmen des MSSM.

Wäre die Supersymmetrie exakt, müsste jedes supersymmetrische Teilchen dieselbe Masse wie sein Standardmodell-Partner besitzen. Da es experimentell bisher nicht gelungen ist, ein supersymmtrisches Teilchen mit der Masse des Elektrons nachzuweisen, kann die Supersymmetrie nur näherungsweise verwirklicht sein. Daher müssen supersymmetrische Teilchen deutlich schwerer sein als ihre Standardmodell-Partner. Unklar ist, welcher Mechanismus die Supersymmetrie brechen kann und auf welcher Massenskala supersymmetrische Teilchen zu finden sind.

Kann der Nachweis supersymmetrischer Teilchen mit den am LHC erreichbaren Energien nahe der TeV-Skala gelingen? Insbesondere zwei Aspekte lassen dies plausibel erscheinen: das Natürlichkeitsproblem und die Existenz Dunkler Materie.

Im Standardmodell sorgen Quantenfluktationen dafür, dass die Higgs-Masse vom Quadrat einer neuen fundamentalen Energieskala abhängt, zum Beispiel der Planck-Skala, EPlanck ≈ 1019 GeV, an der das Standardmodell durch eine Quantentheorie der Gravitation zu ersetzen wäre. Viele Physikerinnen und Physiker erachten die Sensitivität der experimentell zu MHiggs = 125 GeV bestimmten HiggsMasse auf die (unbekannte) Physik nahe der um viele Größenordnungen höheren Planck-Skala als unnatürlich. Das Prinzip der Natürlichkeit zieht sich durch die gesamte bekannte Physik: Eine Theorie gilt als natürlich, wenn die Naturgesetze bei kleinen Abständen oder hohen Energieskalen nicht die physikalischen Abläufe auf sehr viel größeren Abständen oder sehr viel geringeren Energies kalen beeinflussen. So ist es nicht erforderlich zu wissen, wie Quarks in Atomkernen zusammenspielen, wenn es darum geht, die Bahn des Mondes zu beschreiben.

Die Supersymmetrie modifiziert das Quantenvakuum, sodass die Higgs-Masse nicht mehr von der unbekannten Physik nahe der Planck-Skala abhängt und auf natürliche Weise im experimentell beobachteten Bereich liegt − falls die Massen der supersymmetrischen Teilchen nahe der TeV-Skala zu finden sind und damit prinzipiell in Reichweite des LHC. Ob das Natürlichkeitsproblem tatsächlich neue Physik am LHC impliziert, ob es eine andere Lösung hat oder ob es für die Theoriebildung gänzlich ohne Belang ist, wird aktuell kontrovers diskutiert.

Supersymmetrische Theorien sagen zudem die Existenz neutraler, schwach wechselwirkender Teilchen voraus, die in vielen Modellen stabil und damit gute Kandidaten für Dunkle Materie sind. Durch die Expansion des Universums friert die direkt nach dem Urknall entstandene Dunkle Materie aus. Dies führt zu der aus der kosmischen Hintergrundstrahlung bestimmten heutigen Dichte der Dunklen Materie, falls sie schwach wechselwirkt und ihre Masse auf der TeV-Skala liegt.

Die Supersymmetrie fasziniert als theoretisches Konzept und hat sich als phänomenologisch attraktives Modell etabliert. Aufgrund der vielen interessanten und teils experimentell herausfordenden Signaturen sind supersymmetrische Erweiterungen des Standardmodells eine hervorragende Blaupause für die Suche nach neuer Physik am LHC.

Wie kann der Nachweis supersymmetrischer Partnerteilchen gelingen? Schwere neue Teilchen können entstehen, wenn ausreichend Energie zur Verfügung steht – wie bis etwa 10–10 s nach dem Urknall. Heute können wir solche Energien im TeV-Bereich in Kollisionen von Protonen am LHC erzeugen. In diesem 27 km langen Ringbeschleuniger lassen sich Protonen auf eine Energie von maximal 7 TeV beschleunigen, wobei sie annähernd Lichtgeschwindigkeit erreichen. Im Normalbetrieb befindet sich ungefähr alle siebeneinhalb Meter ein etwa 30 Zentimeter langes Protonenpaket in der Maschine. Die Pakete prallen in vier Wechselwirkungspunkten mit einer Rate von 40 MHz aufeinander.

Die in den Kollisionen erzeugten Teilchen zerfallen fast alle direkt wieder. Die Detektoren weisen die dabei entstehenden Teilchen nach. So lassen sich die Eigenschaften der ursprünglich erzeugten Teilchen rekonstruieren. Die Experimente ATLAS und CMS sind sowohl auf vielseitige Messungen von Teilchen und Parametern des Standardmodells als auch auf Suchen nach neuer Physik ausgelegt. Beiden Detektoren liegt folgendes Konzept zugrunde (Abb. 1): Sie sind zwiebelschalenförmig um den Wechselwirkungspunkt herum aufgebaut. Die inneren Lagen bestehen aus Siliziumdetektoren und dienen dem Nachweis geladener Teilchen. Da sich der innere Teil in einem Magnetfeld befindet, leitet sich aus der Krümmung der rekonstruierten Teilchenspuren ihr Impuls ab. In der darauffolgenden Lage schließen sich Kalorimeter an, die neben den geladenen auch die neutralen Teilchen stoppen, um deren Energie zu messen.

Der CMS-Detektor besteht aus mehreren Lagen verschiedener Detektoren, die alle sensitiv sind auf unterschiedliche Teilchenarten. Die Seitenansicht rechts zeigt die einzelnen Schichten und Spuren verschiedener Teilchen, die in den Detektoren nachgewiesen werden.

Nur wenige Teilchen können die Kalorimeter durchdringen: Die Myonen, also die schwereren Geschwisterteilchen der Elektronen, werden erst in Spurkammern außerhalb der Kalorimeter nachgewiesen. Die neutralen und nur schwach wechselwirkenden Neutrinos verlassen den Detektor sogar, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie lassen sich nur indirekt nachweisen. Da die kollidierenden Protonen keinen Impuls transversal zur Strahlachse haben, sollte aufgrund der Impulserhaltung auch die Summe der Transversalimpulse aller erzeugten Teilchen gleich Null sein. Ist dies nicht der Fall, deutet das auf ein oder mehrere Neutrinos hin oder auch auf neue schwach wechselwirkende Teilchen, die den fehlenden Impuls aus dem Detektor getragen haben.

In Proton-Proton-Kollisionen spielt die starke Wechselwirkung durch den Austausch von Gluonen und Quarks die bei weitem größte Rolle. Daher ist die Produktionsrate von stark wechselwirkenden Teilchen am höchsten. Bei den SUSY-Teilchen ist der Wirkungsquerschnitt für die Produktion der SUSY-Partner von Gluonen, den Gluinos, am größten. So könnten in der Laufzeit von Run 2 des LHC von 2015 bis 2018 insgesamt etwa 50.000 Gluinos mit einer Masse von jeweils 1 TeV produziert worden sein. Der Wirkungsquerschnitt nimmt mit steigender Teilchenmasse stark ab, sodass nur noch rund 140 Gluinos mit einer Masse von 2 TeV zu erwarten sind. Bei gleichen Massen ist die Produktionsrate der Quark-Partner um ein bis zwei Größenordnungen kleiner.

Dieses Ereignis zeichnet sich durch viele Teilchenjets aus (gelbe Spuren und grüne Balken, die proportional zur deponierten Energie im Kalorimeter sind). In einem Teil des Detektors ist dagegen wenig Aktivität zu erkennen. Dies ließe sich durch Neutralinos erklären, die unerkannt aus dem Detektor entkommen. Die violette Linie deutet die Richtung der fehlenden Transversalenergie an. Gezeigt ist eine zweidimensionale Projektion des Detektors, wobei die Strahlachse senkrecht zur gezeigten Ebene verläuft.

Ein Großteil der Suchen nach Gluon- und QuarkPartnern geht von Modellen aus, in denen SUSY-Teilchen in Paaren erzeugt werden und über Zerfallskaskaden in mehrere hochenergetische Teilchenjets und in das leichteste supersymmetrische Teilchen zerfallen. Die leichtesten SUSY-Teilchen sind in den meisten Modellen neutral, schwach wechselwirkend und stabil (die Neutralinos). Sie verlassen den Detektor daher − genau wie Neutrinos − ohne eine Spur. Genau diese Eigenschaft hilft aber, die SUSY-Teilchen aufzufinden: Gesucht sind Ereignisse, bei denen ein überdurchschnittlich großer fehlender Transversalimpuls durch Neutralinos auftritt (Abb. 2). Allerdings können auch bekannte Prozesse in seltenen Fällen die gleiche Signatur hervorrufen. Daher ist eine statistische Auswertung der gemessenen Ereignisse notwendig, um deren Signifikanz zu bestimmen. Dazu werden vielversprechende Ereignisse mit einer hohen Anzahl von Teilchenjets und einer großen Gesamtenergie im Detektor, wie sie bei der Produktion von schweren Teilchen zu erwarten sind, zunächst vorselektiert und nach ihren Eigenschaften in verschiedene Kategorien von Signalregionen eingeteilt, die jeweils sensitiv auf verschiedene Modelle sind (Abb. 3).

Die Vorhersage für Untergrundereignisse, die von Standardmodell-Prozessen zu erwarten sind, sind als gefüllte Histogramme gezeigt. Die Verteilung von Signalereignissen mit zwei unterschiedlichen Gluino- und Neutralinomassen sind als durchgezogene und gestrichelte blaue Linien dargestellt. Der schraffierte Bereich zeigt die statistischen und systematischen Unsicherheiten der Standardmodellvorhersage. Während die drei Hauptuntergründe aufeinander gestapelt sind, steht der Beitrag durch die SUSY-Signale separat. Die Vorhersage ist direkt mit den Daten (schwarze Punkte) vergleichbar. Auf der x-Achse ist der fehlende Transversalimpuls angegeben. Der untere Teil zeigt die Differenz der Messdaten und der Untergrundvorhersage im Standardmodell. Es ist kein sichtbarer Überschuss bei hohem zu beobachten, der auf Beiträge von neuer Physik deuten würde.

Tritt ein Überschuss an Daten in der erwarteten Signalregion bei großen Werten von fehlendem Transversalimpuls auf, könnten diese Ereignisse von SUSY-Zerfällen stammen. Sind die Daten aber innerhalb der statistischen und systematischen Unsicherheiten kompatibel mit dem vorhergesagten Untergrund, sind SUSY-Modelle bis zu den Massengrenzen auszuschließen, bei denen noch genug SUSY-Ereignisse erzeugt würden, um einen Überschuss an Daten nachweisen zu können.

Die Suchen nach den Quark- und Gluon-Partnern sind nicht auf ein bestimmtes Modell optimiert, sondern auf eine ganze Klasse von Modellen, bei denen ein großer fehlender Transversalimpuls und viel Energie im Detektor zu erwarten sind. Daher sind die Ergebnisse nicht nur sensitiv auf verschiedene SUSY-Modelle, sondern auch auf alternative Theorien, die motiviert von der Lösung des Natürlichkeitsproblems und der Existenz Dunkler Materie neue schwere Teilchen im TeV-Bereich vorhersagen, beispielsweise Theorien mit zusätzlichen Raumdimensionen oder weiteren globalen Symmetrien. Daher gelten die gezeigten Ausschlussgrenzen oft nicht nur für ein bestimmtes Modell, sondern es wird zusätzlich eine Obergrenze auf das Produkt von Wirkungsquerschnitt und Verzweigungsverhältnis im untersuchten Zerfallskanal gesetzt (Abb. 4).

Bei der gezeigten Ausschlussgrenze auf die Produktion von zwei Gluinos zerfällt jedes Gluino in zwei Quarks und ein Neutralino. In diesem Modell ist theoretisch jede Massenkombination von Gluino und Neutralino möglich, bei der das Neutralino leichter ist als das Gluino. Die gestrichelte dicke rote Linie stellt die obere Ausschlussgrenze abhängig von der Gluinomasse auf der x-Achse und der Neutralinomasse auf der y-Achse dar, wenn die Daten der Untergrundvorhersage entsprechen. Die dicke schwarze Linie beschreibt die Ausschlussgrenze mit der tatsächlichen Messung. Die dünneren Linien geben den Messfehler an. Massenkombinationen, die unterhalb der dicken schwarzen Linie liegen, sind durch diese Messung ausgeschlossen. Der Farbcode beschreibt die modellunabhängige Obergrenze auf Wirkungsquerschnitt und Verzweigungsverhältnis für die entsprechenden Massenkombinationen.

Die SUSY-Partner der elektroschwachen Eichbosonen und Higgs-Bosonen – Wino, Bino und Higgsino – mischen zu jeweils vier geladenen und neutralen Teilchen, den Charginos und Neutralinos – Supersymmetrische Erweiterungen des Standardmodells implizieren einen komplexeren Higgs-Sektor mit mehreren physikalischen Higgs-Teilchen. Im Vergleich zur Produktion von Quark-Partnern oder Gluinos ist die Produktionsrate wesentlich geringer, da diese Teilchen nur mittels elektroschwacher Wechselwirkung entstehen. Trotzdem sind Neutralinos und Charginos möglicherweise die am leichtesten auffindbaren SUSY-Teilchen am LHC. Die genaue Produktionsrate hängt vom Anteil der Higgsino- oder Wino-/Bino-Komponente ab. So wären bei einer Paarproduktion von Charginos und Neutralinos mit vorwiegendem Higgsino-Anteil (im Folgenden Higgsino genannt) und einer Masse von 1 TeV etwa 150 CharginoNeutralino-Paare während des gesamten Run 2 produziert worden. Bei einem vorwiegenden Wino-Bino-Anteil wären es 200. Bei recht niedriger Masse könnten Higgsinos jedoch in größerer Zahl entstehen als schwerere Gluinos oder Quark-Partner. Daher wären bei einer Masse von 500 GeV etwa 5000 Higgsino-Paare produziert worden, gegenüber den 140 Gluino-Paaren bei einer Gluino-Masse von 2 TeV.

Das leichteste Neutralino ist ein guter Kandidat für ein Dunkle-Materie-Teilchen, da es nur schwach wechselwirkt, nicht geladen ist und in vielen SUSY-Modellen als stabil gilt. Das Natürlichkeitsproblem wiederum motiviert relativ leichte Higgsinos. Suchen nach Charginos und Neutralinos, insbesondere mit einer hohen Higgsino-Komponente spielen daher eine wichtige Rolle.

Die Art der Chargino-/Neutralino-Zerfälle bis zum leichtesten Neutralino hängen vom Higgsino- und WinoBino-Anteil ab (Abb. 5). Im Fall eines hohen Higgsino-Anteils haben die leichtesten Charginos/Neutralinos eine recht ähnliche Masse und bilden ein Triplett, sodass die entstehenden Zerfallsprodukte nur sehr wenig Energie erhalten können. Die Rekonstruktion dieser niederenergetischen Zerfallsprodukte erfordert ein hervorragendes Verständnis des Detektors und der Rekonstruktions-Algorithmen.

Bei vorwiegendem Higgsino-Anteil (rechts) bilden das leichteste Chargino und die zwei leichtesten Neutralinos ein Triplett mit nur geringfügiger Massendifferenz. Zerfällen des leichtesten Charginos oder zweitleichtesten Neutralinos ins leichteste Neutralino steht nur wenig Energie zur Verfügung. Bei vorwiegendem Wino-/Bino-Anteil (links) bildet das leichteste Neutralino ein Singulett. Zum leichtesten Chargino und zweitleichtesten Neutralino besteht eine höhere Massendifferenz, sodass Zerfallsprodukte mehr Energie zur Verfügung haben als im Higgsino-Szenario.

Derartige Zerfälle von SUSY-Teilchen wären gut durch Selektion zweier geladenener, niederenergtischer Elektronen oder Myonen nachweisbar. Die Leptonen stammen aus den Zerfällen des leichtesten Charginos oder des zweitleichtesten Neutralinos ins leichteste Neutralino. Relevante Signaturen zeichnen sich durch einen hohen fehlenden Transversalimpuls aus. Dieser ist besonders hoch, wenn der Zerfall durch Abstrahlung eines Gluons von den kollidierenden Quarks und Gluonen in den Protonen in die Flugrichtung der leichtesten Neutralinos geboostet wird. Aufgrund der schwierigen Rekonstruktion niederenergetischer Leptonen gilt es, den Untergrund durch Fehlmessungen sorgfältig zu berechnen – wie bei einer Suche der ATLAS-Kollaboration (Abb. 6). Da die Daten mit der Untergrundvorhersage übereinstimmen, wurden Ausschlussgrenzen auf die Masse des leichtesten Neutralinos abhängig von der Massendifferenz zwischen dem leichtesten Chargino und leichtesten Neutralino hergeleitet (Abb. 6, hellblau). Die Berechnung basiert auf einem vereinfachten SUSY-Modell, in dem nur die beiden leichtesten Neutralinos und das leichteste Chargino relevant sind. Das zweitleichteste Neutralino zerfällt immer in das leichteste Chargino und dieses weiter in das leichteste Neutralino. Die Massendifferenz zwischen dem leichtesten Neutralino und dem leichtesten Chargino und zwischen dem leichtesten Chargino und dem zweitleichtesten Neutralino wird als gleich angenommen.

Die Ausschlussgrenzen auf die Masse des leichtesten Charginos hängen von der Massendifferenz zwischen dem leichtesten Chargino und Neutralino ab. Bei einer Massendifferenz von mehr als 1 GeV ist es möglich, in einer Signatur mit zwei niederenergetischen Elektronen oder Myonen nach Zerfallsprodukten zu suchen. Die blau gestrichelte Linie gibt die Ausschlussgrenze für den Fall an, dass die Daten genau mit der Untergrunderwartung übereinstimmen. Modelle im blau gefüllten Bereich sind gemäß der Beobachtungen ausgeschlossen. Orange gezeigt ist eine Suche nach Charginos und Neutralinos mit einer noch niedrigeren Massendifferenz, sodass keine Zerfallsprodukte mehr rekonstruierbar sind. Die Ausschlussgrenzen des LEP-Beschleunigers auf das leichteste Chargino sind grau gezeigt. Die Ausschlussgrenzen hängen vom Modell ab. Allerdings sind meist die Ausschlussgrenzen auf Charginos und Neutralinos niedriger (deutlich unter 1 TeV) als die Ausschlussgrenzen auf Gluinos und Quark-Partner (im TeV-Bereich).

Die ATLAS-Suche ist nur für eine Massendifferenz von mehr als 1 GeV zwischen dem leichtesten Chargino und Neutralino sensitiv. Sonst besitzen die Zerfalls produkte zu wenig Energie, um Elektronen oder Myonen zu rekonstruieren, da die Detektoren solch niederenergetische Teilchen nicht registrieren können. Allerdings zerfällt das Chargino bei sehr kleiner Massendifferenz nicht unmittelbar nach der Produktion, sondern legt im Detektor eine Strecke von etwa 10 bis 20 mm zurück (unter Annahme einer Massendifferenz von etwa 300 MeV und dass das leichteste Neutralino ein reines Higgsino ist). Somit ist in den Siliziumdetektoren eine geladene Spur zu beobachten. Diese verschwindet weiter außen, da das Chargino in ein nicht detektierbares Neutralino zerfällt. Das dabei entstehende Pion besitzt eine so kleine Energie, dass es nicht nachweisbar ist. Diese Signatur einer noch im inneren Detektor verschwindenden Spur ist sehr charakteristisch. Daher kann sie gut dazu dienen, Sensitivität auf diese kleinen Massendifferenzen zwischen Charginos und Neutralinos zu erlangen. Die resultierenden Ausschlussgrenzen erweisen sich als komplementär zu denjenigen der LEP-Suche (Abb. 6).

Signaturen mit langlebigen neuen Teilchen sind in einem breiten Spektrum von Theorien zu erwarten – neben der Supersymmetrie etwa in alternativen Ansätzen für Dunkle Materie. Sie bieten eine vielversprechende und generische Methode zur Suche nach neuer Physik am LHC.

Das Standardmodell liefert auf grundlegende Fragen wie die Natur der Dunklen Materie oder den Ursprung der Materie-Antimaterie-Asymmetrie keine Antworten; die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells ist daher ein zentraler Teil des Forschungsprogramms am LHC. Da bisher keine supersymmetrischen Teilchen gefunden wurden, sind andere Ansätze für die Suche nach neuer Physik wie effektive Feldtheorien, vereinfachte Modelle oder auch die Suche nach Anomalien durch Methoden des maschinellen Lernens stärker in den Fokus gerückt.

Die Supersymmetrie spielt allerdings weiterhin eine wichtige Rolle bei der Planung und Interpretation experimenteller Analysen. So sind viele Suchen nach supersymmetrischen Teilchen sensitiv auf generische Effekte neuer Physik, beispielsweise auf die Existenz von Leptoquarks als eine mögliche Erklärung für Hinweise auf die Verletzung der Flavor-Symmetrie in der B-Physik [].

Supersymmetrische Modelle motivieren zudem die Analyse von bisher wenig untersuchten und experimentell anspruchvollen Signaturen. Die hier beschriebene Suche nach den supersymmetrischen Partnern der elektroschwachen Eichbosonen führt zu neuen, verfeinerten Methoden, um damit langlebige Teilchen nachzuweisen. Neben der Supersymmetrie sagen auch viele alternative Ansätze für Dunkle Materie solche Teilchen voraus.

Schließlich zeigt sich, dass eine theoretisch konsistente Formulierung der vereinfachten Modelle, die in den letzten Jahren vermehrt zur Interpretation experimenteller Analysen dienten, häufig zu theoretischen Strukturen führt, die aus der Supersymmetrie bekannt sind. Nur im Rahmen solch konkreter und theoretisch konsistenter Modelle lassen sich die am LHC gewonnenen Ergebnisse mit den Suchen nach neuer Physik in niederenergetischen Präzisionsexperimenten oder der Astroteilchenphysik und Kosmologie in Beziehung setzen.

Die Forschungsprogramme des LHC und des geplanten Upgrades zum High-Luminosity LHC sind nicht darauf ausgerichtet, ein spezielles Modell zu überprüfen, sondern haben einen weitgehend explorativen, ergebnisoffenen Charakter. Supersymmetrische Modelle sind aufgrund ihrer reichhaltigen und teils experimentell herausfordernden Signaturen als Motivation und Interpretationsrahmen für die Suche nach neuer Physik am LHC unerlässlich.

Im Fokus zukünftiger Messphasen stehen Suchen nach seltenen Prozessen, die aufgrund ihrer geringen Ereignisrate oder komplexer Signaturen schwer nachzuweisen sind. Daher besteht z.B. bei Suchen nach Charginos und Neutralinos großes Entdeckungspotenzial mit weiteren LHC-Daten. Sollte die neue Physik bei Energien weit oberhalb der TeV-Skala auftreten, sind neue Hochenergiebeschleuniger nötig, um die Sensitivität der Suchen signifikant zu erhöhen. So könnten Präzisionsmessungen an Elektron-Positron-Collidern Quanteneffekte schwererer Teilchen aufspüren oder Proton-Proton-Beschleuniger mit höherer Schwerpunktsenergie neue Teilchen direkt erzeugen.

Michael Krämer, Jeanette Lorenz und Isabell Melzer-Pellmann. "Supersymmetrie auf dem Prüfstand“ Physik Journal. 2020. 11. 44 ff. Copyright Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Reproduced with permission.

(mho)