Russische Angriffe auf E-Werke: Wie in der Ukraine das Licht anbleiben soll

Das Land versucht fieberhaft, seine Anbindung an das EU-Stromnetz zu stärken. Nur so könne die Energieversorgung erhalten bleiben. Doch geht das technisch?

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Stromnetz: 380kV-Leitungen im Transportnetz von EnBW

Das urkainische Energieunternehmen DTEK warf letzte Woche rasch neun zusätzliche Kohleturbinen an, um den Ausfälle des riesigen Kernkraftwerks zu kompensieren. (Symbolbild)

(Bild: dpa, Julian Stratenschulte)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • James Temple
Inhaltsverzeichnis

Der Feldzug der russischen Armee gegen ukrainische Städte, ihre Bevölkerung und die kritische Infrastruktur des Landes gefährdet zunehmend die Versorgung – und zwar auch mit Energie. Die Kraftwerke der Ukraine sind von der Außenwelt mehr und mehr abgeschnitten, hinzu kommt eine veraltete Infrastruktur.

Das Land ist inzwischen quasi eine Insel, nachdem es zu Beginn der Invasion vom belarussischen und russischen Stromnetz abgekoppelt wurde und nun fast seinen gesamten Strom selbst zu erzeugen hat. Mehr als die Hälfte der verfügbaren Energie wird von vier verbliebenen Kernkraftwerken erzeugt. Das größte von ihnen – unter Volllast sogar das größte AKW Europas – wurde Ende letzter Woche bei einem Angriff von russischen Truppen eingenommen, seither herrscht große Angst vor einem atomaren Unfall.

Am Sonntag berichtete das ukrainische Energieunternehmen DTEK dann, dass Russland in den letzten Tagen mit einer "gezielten Zerstörung" der Energieinfrastruktur des Landes begonnen habe. Demnach wurden ein Kraftwerk in Ochtyrka zerstört und Hochspannungsinfrastruktur in der Region Donezk getroffen.

Darüber hinaus sollen die russischen Streitkräfte die Kontrolle über ein Wasserkraftwerk in Kiew übernommen haben und planten, ein weiteres in Nowa Kachowka ins Visier zu nehmen. Sie übernahmen zudem das Heizkraftwerk in Luhansk, beschossen eine Gaspipeline in Charkiw (die möglicherweise russisches Gas transportierte) und legten in mehreren Großstädten den Strom und andere grundlegende Infrastrukturen komplett lahm. Nach Angaben von DTEK hätten fast eine Million Menschen in Mariupol und der Region Kiew keinen Zugang zu diesen grundlegenden Versorgungsgütern mehr.

Die zunehmenden Angriffe haben die Befürchtung geweckt, dass Russland weitere Kernkraftwerke und andere wichtige Energieanlagen angreifen könnte. Ein solcher Angriff auf das Energiesystem gilt als eine besonders effektive Kriegstaktik gegen eine Zivilnation. Sie verursache durch Angriffe auf relativ kleine Ziele weitreichende Schäden, sagt Adam Stein, stellvertretender Direktor für den Bereich Nukleare Innovation am Breakthrough Institute im kalifornischen Oakland.

Bei den noch immer eisigen Wintertemperaturen im Land kann dies tödliche Auswirkungen haben. Denn selbst wenn die Erdgaspipelines intakt bleiben, wird Strom benötigt, um Pumpstationen und Öfen zu betreiben, die Häuser und Gebäude heizen. "Machen wir uns nichts vor: Wenn man die ukrainischen Kraftwerke vom Netz nimmt, werden Zivilisten getötet", twitterte Jesse Jenkins, Assistenzprofessor an der Princeton University und Experte für den Bereich Energieversorgungsmodellierung.

Wenn der Strom abgeschaltet wird, können die U-Bahnen, O-Busse und Fernzüge, mit denen die Bürger zu fliehen versuchen, stillgelegt werden, die Lichter in Bunkern und Krankenhäusern erlöschen und Lebensmittel und Medikamente schnell verderben. Außerdem droht die Gefahr, dass die Kommunikation unterbrochen wird. Die Regierung kann keine Abwehrmaßnahmen planen, die militärische Verteidigung ist beeinträchtigt – und das untergräbt die Moral.

Am Sonntag blieben die Strahlenwerte im Kernkraftwerk Saporischschja im Südosten der Ukraine zum Glück normal, trotz des durch die russischen Truppen ausgelösten Feuers in einem Trainingsgebäude. Allerdings waren nur zwei der sechs Reaktoren nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde in Betrieb. Das bisherige Team betreibt das Kraftwerk noch immer, allerdings "auf Anweisung des Kommandanten der russischen Streitkräfte", hieß es. Diese haben die Kontrolle über das Gelände übernommen und die Kommunikation nach außen abgeschottet.

Die Ukraine hat nur begrenzte Möglichkeiten, die Widerstandsfähigkeit ihres Stromnetzes inmitten eines Krieges zu stärken. DTEK warf letzte Woche rasch neun zusätzliche Kohleturbinen an, um den Ausfälle des riesigen Kernkraftwerks zu kompensieren.

Doch die Kohle- und Erdgasreserven der Ukraine waren – wie auch in vielen anderen europäischen Ländern – in diesem Winter bereits geringer als normal. Russland lieferte weniger Energie als üblich. Und die Versorgungslinien von den Kohlegruben zu den Häfen und umgekehrt sind möglicherweise eingeschränkt, durch Militärschläge gefährdet oder anderweitig belegt. Zudem wurden die Bahngleise, die ein Wärmekraftwerk in Saporischschja mit Kohle versorgen, "in die Luft gesprengt", wie DTEK angab.

Wenn Kohlekraftwerke für die Leistung eines AKW einspringen müssen, werden die Reserven schnell erschöpft sein, befürchtet Georg Zachmann, Senior Fellow des Think Tanks Bruegel, Experte für ukrainische Energiefragen. Ukrainische Beamte und Manager aus dem Energiesektor des Landes drängen daher auf eine andere Alternative: die rasche Integration des ukrainischen Stromnetzes in das der Europäischen Union, um die Einspeisung von Strom zu ermöglichen – insbesondere für den Fall plötzlicher oder besonders großer Ausfälle.

Diese Bemühungen sind eigentlich seit längerem im Gange. Im Jahr 2017 unterzeichnete der wichtigste Übertragungsnetzbetreiber des Landes, Ukrenergo, eine Anschlussvereinbarung mit ENTSO-E, dem europäischen Verband von mehr als 40 Übertragungsnetzbetreibern. Die Integration würde jedoch die Installation von Frequenzregelanlagen und anderen technischen Systemen erfordern, um sicherzustellen, dass die Netze kompatibel sind. Auch umfangreiche Systemsicherheitstests und eine Vielzahl komplexer Regulierungs- und Strommarktvereinbarungen stehen noch aus.

Eine vollständige Integration würde sicherlich auch die Inbetriebnahme neuer Übertragungsleitungen durch Ungarn, Moldawien, Polen, Rumänien und die Slowakei erfordern, wie Experte Zachmann in einer Analyse im vergangenen Jahr feststellte. Diese könnten dann zusammen mehr als fünf Gigawatt Strom liefern und würden damit mehr als 10 Prozent der normalen Stromerzeugerkapazität der Ukraine ausmachen. Das würde dann dem von der EU und ENTSO-E für eine grenzüberschreitenden Integrationen geforderten Niveau entsprechen.

Es wurde erwartet, dass ein solches System mindestens 600 Millionen Euro kosten und Jahre bis zur Fertigkstellung brauchen würde. Nun besteht allerdings die Hoffnung, dass die Parteien ihre Systeme zumindest im "Notfallmodus" synchronisieren können – möglicherweise innerhalb von Tagen oder Wochen. Dazu müssten allerdings einige der üblichen Anforderungen und Vereinbarungen zwischen den Betreibern gestrichen werden. Eine so begrenzte Integration könnte aber immerhin auf Leitungen zurückgreifen, die die Ukraine bereits mit Ungarn und der Slowakei verbinden, so Zachmann.

EU-Energiekommissarin Kadri Simson sieht bereits einen breiten Konsens darüber, "so schnell wie möglich" voranzukommen, berichtet "Reuters". Doch zuvor gibt es einige erhebliche technische und politische Herausforderungen zu meistern, die die Integration verzögern. Ende letzten Monats erklärte ENTSO-E, seine Übertragungsnetzbetreiber würden die möglichen Optionen "mit Dringlichkeit bewerten" und die Integration zu einer "vorrangigen Angelegenheit" machen. Es wurden jedoch keine Einzelheiten über den aktuellen Stand des Vorhabens oder den voraussichtlichen Zeitplan bekannt gegeben.

In einer Antwort auf eine Anfrage von MIT Technology Review erklärte die Pressestelle der Organisation, dass ihre Experten derzeit verschiedene Optionen prüften. Dabei müssten jedoch technische Erwägungen, die Systemstabilität, regulatorische Fragen und Belange der Cybersicherheit berücksichtigen werden.

(bsc)