Sabotage an Nord Stream: Wer gerade bezichtigt wird und warum

Ein Dreivierteljahr nach Zerstörung der Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 gibt es immer noch viele offene Fragen. Wer aktuell wen bezichtigt und warum.

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Ausströmendes Gas in der Ostsee

(Bild: Schwedische Küstenwache)

Lesezeit: 7 Min.
Inhaltsverzeichnis

Ein knappes Dreivierteljahr nach den Explosionen an den Ostsee-Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 gibt es zwar Spuren, aber noch keine endgültigen Erkenntnisse, wer die Energieleitungen zwischen Russland und Deutschland gesprengt hat. Ganz im Gegenteil gibt es immer wieder neue, zum Teil widersprüchliche Informationen zu den möglichen Tätern – so aktuell zu einer angeblichen Rolle Polens. In diesem Artikel geben wir einen Überblick über die verschiedenen Akteure und Bezichtigungen.

Fest steht nur: Bei dem Sabotageakt nahe der dänischen Insel Bornholm waren Ende September 2022 drei der insgesamt vier Rohre beschädigt worden. Nord Stream 1 war im Sommer bereits von Russland stillgelegt worden. Nord Stream 2 erhielt niemals die Betriebszulassung. Gleichwohl waren beide Pipelines aus technischen Gründen mit Erdgas befüllt, das in großen Mengen über die Meeresoberfläche entwich. Deutschland, Dänemark und Schweden führen unabhängig voneinander Ermittlungen.

Eine Beteiligung der Ukraine erscheint gegenwärtig laut Medienberichten als die wahrscheinlichste Variante. Deutsche Ermittler verfolgen Spuren, die zu einer Gruppe von sechs Personen führen, die über eine Briefkastenfirma in Polen eine Segeljacht angemietet und damit von Rügen aus in See gestochen sein soll, um die Sabotage zu verüben. Unklar ist dabei noch, ob es sich um eine paramilitärische, eine privat finanzierte oder gar eine staatliche Gruppe handelte. Mithilfe eines DNA-Abgleichs wird überprüft, ob ein ukrainischer Militärangehöriger unter den Tätern war. In der Jacht Andromeda wurden Sprengstoffspuren auf einem Tisch gefunden, die diesen Verdacht erhärten.

Dass die Ukraine offenbar Pläne für einen Anschlag auf Nord Stream 1 hatte, geht auch aus den sogenannten Pentagon-Papers hervor. Demzufolge soll eine ukrainische Spezialeinheit geplant haben, im Juni 2022 die Leitung Nord Stream 1 zu sprengen. Diese Pläne seien jedoch auf Eis gelegt worden. Deutschland habe über die amerikanische CIA und aus den Niederlanden Kenntnis von diesen Plänen erlangt.

Motive hätte die Ukraine angesichts des brutalen Angriffskriegs Russlands genug. Mit den Pipelines wurde Russland eine Möglichkeit genommen, Geld zur Finanzierung seines Krieges zu erwirtschaften. Dass zudem unklar ist, wer den Anschlag verübt hat, und der Verdacht auch auf Russland fällt, verschlechtert das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen weiter. Schon vor dem Krieg war Nord Stream der Ukraine ein Dorn im Auge, da die Pipeline darauf abzielt, Transitländer zu umgehen. Damit entfallen auch Transitgebühren für die Durchleitung. Nach der Zerstörung sind die Transitleitungen durch die Ukraine für Russland wieder bedeutsamer geworden, was die Russen zumindest im näheren Umfeld von Angriffen abhalten könnte.

Allerdings steht für die Ukraine auch einiges auf dem Spiel: Sollte das Land die Leitungen gesprengt haben, was enorme Energiepreiserhöhungen zur Folge hatte, könnte das den Rückhalt in der westlichen Bevölkerung deutlich schmälern. Und die ist wichtig, um von den Staaten weitere Waffenlieferungen zu erhalten.

So direkt wie Polen, das Russland der Täterschaft bezichtigt, ist kaum ein Land. Dennoch gilt es als möglich, dass Russland seine eigenen Pipelines in die Luft gesprengt haben könnte. Eine solche Operation unter falscher Flagge, die Russland der Ukraine unterschiebt, könnte die Unterstützung des Westens für das angegriffene Land schmälern oder gar zusammenbrechen lassen.

Indizien für eine Beteiligung Russlands sind unter anderem Beobachtungen russischer Spezialschiffe in der Nähe der Pipelines, die dort mit ausgeschaltetem Ortungssender unterwegs gewesen sein sollen. Dennoch gibt es in westlichen Sicherheitskreisen auch erhebliche Zweifel.

Neben einer möglichen Beschädigung des Ansehens der Ukraine profitiert Russland durch die Anschläge auch von Turbulenzen auf den Energiemärkten, die die westlichen Unterstützer der Ukraine in Bedrängnis bringen. Nachdem Nord Stream 1 stillgelegt wurde und das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland schwer beschädigt ist, gilt es auch als unwahrscheinlich, dass für die Leitungen in nächster Zeit noch Bedarf besteht. Gegen eine Täterschaft spricht, dass der Westen sich infolge des Ausfalls von Nord Stream und der Unsicherheiten neue Möglichkeiten zum Bezug von Gas gesucht hat. Für Russland war der Export über viele Jahre eine wichtige Einnahmequelle.

Polen könnte laut eines Berichts des Wall Street Journals eine Verbindung zur Sabotage an den Nord-Stream-Gaspipelines haben. So gebe es Hinweise, denen zufolge das Täterteam das Land als operative Einsatzbasis genutzt habe. Inwieweit das mit Wissen der dortigen Geheimdienste geschah, bleibt unklar. Polen war von Anbeginn an erklärter Gegner der Nord-Stream-Pipelines, die direkte Gastransporte zwischen Russland und Deutschland unter Umgehung der Transitländer in Osteuropa ermöglichten. Ermittler hätten nach Auswertung von Daten der Segeljacht Andromeda herausgefunden, dass das Boot einen Zwischenstopp in Polen eingelegt habe. Möglicherweise steuerte es das Land an, nachdem zuerst an Nord Stream 1 Sprengladungen angebracht wurden. Der Sprecher des Koordinators der Geheimdienste Polens, Stanislaw Zaryn, bestreitet auf Twitter jede Verbindung zu den Anschlägen.

Ein auf der Hand liegendes Motiv Polens fehlt jedoch: Die Bedeutung Russlands als Energielieferant des Westens ist gesunken – und damit auch der Wert der Transitleitungen durch Polen. Zudem ist der potenzielle Schaden durch einen Vertrauensverlust zwischen den NATO-Ländern größer als der tatsächliche für Polen.

Zu den abenteuerlichsten Episoden in den Meldungen nach Explosion der Pipelines gehören die Bezichtigungen Russlands, dass Großbritannien hinter dem Sabotageakt stecken soll. So behauptete der Kreml im November 2022, dass angeblich britische Militärspezialisten den Anschlag verübt hätten. Es wurden auch gleich "große Schritte" angekündigt, die bis heute ausgeblieben sind. Welches Motiv Großbritannien gehabt haben könnte, ließ Russland offen.

Russland hat die USA wiederholt bezichtigt, die Pipelines sabotiert zu haben. Nützlich war den Russen dabei auch, dass der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh sein eigenes Land ebenfalls als Urheber des Anschlags ansieht. Seinen Recherchen zufolge hätten US-Marinetaucher unter dem Deckmantel der NATO-Übung Baltops die Vorbereitungen dafür getroffen. Hersh beruft sich allerdings auf eine einzige Quelle. Seine Ausführungen enthielten laut Experten zudem allerhand Ungereimtheiten.

Dass die USA kein Freund von Nord Stream sind, daraus machte US-Präsident Joe Biden Anfang 2022 keinen Hehl. Wenn Russland die Ukraine überfalle, werde er der Pipeline ein Ende bereiten, drohte er seinerzeit. Auf diese Aussage beziehen sich jetzt viele, die die USA bezichtigten.

Die Pipeline-Zusammenarbeit Deutschlands mit Russland dürfte den USA ein Dorn im Auge gewesen sein. Durch die Zerstörung und die mögliche Täterschaft Russlands rückt Deutschland wieder mehr in die Richtung seines westlichen Bündnispartners. Zudem sind die USA als LNG-Lieferant Hauptprofiteur des gestiegenen Flüssigerdgas-Bedarfs. Gegen eine Beteiligung spricht, dass es das transatlantische Verhältnis massiv belasten würde.

(mki)