Sollen sich Unter-60-Jährige ein zweites Mal boostern lassen?​

Bei der Frage nach dem 2. Boostern herrscht Wirrwarr, denn STIKO-Chef Thomas Mertens widersprach einem Aufruf von Karl Lauterbach sofort. Eine Einordnung.

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(Bild: FabrikaSimf/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
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Karl Lauterbachs Aufruf klang verlockend. In einem Interview mit dem Spiegel hatte der Gesundheitsminister Mitte Juli auch Erwachsenen unterhalb von 60 Jahren eine zweite Auffrischimpfung gegen Corona empfohlen. "In Absprache natürlich mit dem Hausarzt" und, "wenn jemand den Sommer genießen und kein Risiko eingehen will, beispielsweise zu erkranken, vielleicht noch länger zu erkranken und an Long Covid zu erkranken“. Er versprach damit implizit, dass man sich auch auf Konzerten, Partys und anderen Orten mit vielen Menschen keine Gedanken um eine Ansteckung machen müsse.

Laut STIKO sollen sich derzeit nur über 70-Jährige ein zweites Mal boostern lassen. Unterhalb von 60 Jahren gilt die Empfehlung nur Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben, ein geschwächtes Immunsystem haben oder die mit diesen besonders gefährdeten Personen Kontakt haben, wie Ärzte und Pflegekräfte.

STIKO-Chef Thomas Mertens widersprach dem Gesundheitsminister im Gespräch mit der "Welt am Sonntag" denn auch umgehend. Die Datenlage gäbe eine solche Empfehlung nicht her, und er "halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto 'viel hilft viel' auszusprechen".

Corona-Pandemie: Neue Varianten - Erkrankung - Impfung

Nun wäre es nicht schlimm, wenn Lauterbach eine Erweiterung der STIKO-Empfehlung fordert, sofern es dafür belastbare Belege gibt. Doch der Gesundheitsminister, der vor seiner Ernennung häufig über Studienergebnisse twitterte, lieferte keine Quellen.

Dafür steht die STIKO mit ihrem Einwand, der zweite Booster nütze Jüngeren kaum, nicht allein da. So beurteilt etwa die Virologin Ulrike Protzer von der Technischen Universität München die Datenlage im Tagesschau-Interview als "nicht so gut". Schon im April hatten Immunologie- und Virologie-Experten den Nutzen eines zweiten Boosters für Jüngere als gering bewertet.

Könnte oder sollte man sich nicht trotzdem jetzt im Sommer noch mal impfen lassen, anstatt auf die an Omikron angepassten Impfstoffe zu warten – wenn es keine Nachteile, dafür aber vielleicht einen zumindest geringen Vorteil gibt? Es sieht allerdings so aus, als sind die Vorteile wirklich gering und einige Nachteile lassen sich zumindest nicht ausschließen. Wie schwerwiegend letztere sind, darüber herrscht leider kein wissenschaftlicher Konsens, wie eine aktuelle Befragung des Kölner "Science Media Centers" (SMC) zeigt.

Als Vorteil gilt, dass Booster einerseits das Immungedächtnis verbesserten und die gebildeten Antikörper stärker an das Spike-Protein binden sowie neue Stellen darauf erkennen, sagt Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich. Die Auffrischimpfungen führten "zu einer Wiederherstellung hoher Antikörperwerte im Blut und an den Schleimhäuten, wo das Virus eindringt". Wichtig scheint ein ausreichend großer Abstand zur vorherigen Immunisierung von mindestens sechs Monaten zu sein.

Die Schleimhautabwehr kann eine Ansteckung von vornherein verhindern, allerdings besteht dieser Schutz nur vorübergehend und beträgt laut einer Studie gegenüber der Omikron-Variante nach einer vierten Impfung lediglich zehn bis 30 Prozent, betont Andreas Radbruch, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums Berlin. Der geringe Schutz ist wenig verwunderlich, da sich das Omikron-Spike-Protein gegenüber dem von früheren Varianten deutlich verändert hat.

Die bisherigen Impfungen regen vorwiegend die Produktion von Antikörpern im Blut und von Gedächtniszellen an, die bei erneutem Viruskontakt die Antikörperproduktion hochfahren lassen. Deshalb schützt die Immunisierung gut vor schweren Krankheitsverläufen und einem tödlichen Verlauf, und weniger gut vor Ansteckung. "Wir bekommen auch mit einer vierten Impfung keine 'sterile' Immunität hin", sagt Andreas Thiel, der an der Berliner Charité die Arbeitsgruppe "Regenerative Immunologie und Altern" leitet. Für einen langfristig guten Ansteckungsschutz wird weltweit mit Hochdruck an Schleimhautimpfstoffen und Sprays gearbeitet, die die Schleimhaut bedecken und ein Eindringen von Viren verhindern.

Als Nachteil befürchten einige Forscher wie Radbruch, dass zu viele Booster das Immunsystem gleichsam sättigen könnten. Es würde dann kaum oder gar nicht auf neue Varianten reagieren. Möglicherweise hätte dann auch eine an Omikron angepasste Impfung nur eine geringe Schutzwirkung. Das wird allerdings noch intensiv diskutiert. Andere Wissenschaftler wie Boyman betrachten das Problem als "sehr theoretisch", es entspräche "nicht der klinischen Erfahrung".

Ebenfalls diskutiert wird die Frage, ob mehrere Booster – ähnlich wie manchmal frühere Coronavarianten – eine unerwartete und bisher ungeklärte Dämpfung des Immunsystems bewirken könnten. So beobachteten britische Forscher in einer Studie mit Gesundheitsmitarbeitern, dass deren Immunabwehr in vielen Fällen nach einer durchgemachten Original-, Alpha- oder Delta-Erkrankung selbst nach drei Impfungen weit weniger auf Omikron ansprang als bei dreifach Geimpften ohne Infektion. Das lässt sich wohl nicht allein mit den Spike-Mutationen erklären. Doch abschließend geklärt ist die Sorge, ob das auch der Booster bewirken können, ebenfalls noch nicht.

Insgesamt sehen die Experten bei gesunden Unter-60-Jährigen nach wie vor keine ausreichenden Vorteile für einen Booster mit den bisherigen Impfstoffen. Eine Senkung der Altersgrenze von 70 auf 60 erscheint ihnen sinnvoll, wie das die STIKO auch bereits prüft. Zur Abwägung bei Jüngeren gehört zudem wohl auch, dass man bei einem Booster jetzt dann bei den – für den Herbst erwarteten – Omikron-Impfstoffen nicht den empfohlenen Sechs-Monatsabstand einhalten kann.

Radbruch plädiert zudem bei Risikopatienten dafür, statt pauschal draufzuboostern lieber zu prüfen, ob sie womöglich gar keine Immunantwort bilden können. In dem Fall "wäre es verantwortungsbewusst, die 'non-responder' der Risikogruppen serologisch zu erfassen und sie passiv prophylaktisch zu schützen – mit Antikörperpräparaten, ganz im Sinne der Serumtherapie von Behring, für die 1901 der erste Nobelpreis für Medizin vergeben wurde".

Doch auch wenn Experten sich bei Jüngeren gegen eine vierte Impfung aussprechen, sollte man Infektionen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn in einem Punkt hatte Lauterbach recht: Das nicht unerhebliche Risiko von Long Covid bleibt.

(vsz)