Urteil gegen Twitter: Antisemitismus-Beauftragter siegt über diffamierende Rede

Twitter muss bei einem konkreten Hinweis auf eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auch kerngleiche Äußerungen anderer Nutzer entfernen, so ein neues Urteil.

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(Bild: nepool/Shutterstock.com)

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Wer sich auf Twitter mit falschen oder ehrverletzenden Tweets konfrontiert sieht, kann von dem Plattform-Betreiber verlangen, dass diese gelöscht werden. Dies gilt auch für sinngemäße Kommentare mit "identischem Äußerungskern" vom gleichen oder von anderen Nutzerinnen und Nutzern, sobald das soziale Netzwerk prinzipiell von einer konkreten Persönlichkeitsrechtsverletzung Kenntnis hat. Dies hat das Landgericht Frankfurt am Main am Mittwoch in einem Eilverfahren entschieden.

Die Klage reichte der Beauftragte der baden-württembergischen Landesregierung gegen Antisemitismus, Michael Blume, ein. Er sieht sich nach eigenem Empfinden auf der Plattform seit Monaten einer Verleumdungskampagne ausgesetzt, die er dauerhaft stoppen will. Ihm wurde etwa im September unterstellt, er habe "eine Nähe zur Pädophilie" und "einen Seitensprung gemacht". Außerdem wurde über ihn verbreitet, er sei in "antisemitische Skandale" verstrickt und er sei "Teil eines antisemitischen Packs".

Die zuständige Frankfurter Pressekammer stellte fest, dass diese ehrenrührigen Behauptungen unwahr sind. Bei der Bezeichnung als Antisemit handle es sich zwar zunächst um eine Meinungsäußerung. Sie sei aber jedenfalls in dem gewählten Kontext rechtswidrig, denn sie trage nicht zur öffentlichen Meinungsbildung bei und ziele erkennbar darauf ab, in emotionalisierender Form Stimmung gegen Blume zu machen.

Nachdem dieser die Entfernung dieser Postings verlangte, hätte Twitter laut dem Gericht ihre Verbreitung unverzüglich unterlassen und einstellen müssen. Dieses Gebot greife nicht nur dann, "wenn eine Äußerung wortgleich wiederholt wird, sondern auch, wenn die darin enthaltenen Mitteilungen sinngemäß erneut veröffentlicht werden". Betroffen davon seien nur solche Kommentare, "die als gleichwertig anzusehen sind" trotz gewisser Abweichungen. Die Überwachungspflicht gilt dem Urteil (Az.: 2-03 O 325/22) zufolge unabhängig davon, von wem die Äußerung stammt. Entscheidend für den rechtsverletzenden Charakter seien der Inhalt und der Kontext, nicht das genutzte Konto. Sonst könnte die Auflage leicht umgangen werden.

Sollte das Unternehmen den Auflagen nicht nachkommen, drohen für jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro oder ersatzweise bis zu sechs Monate Ordnungshaft. Für Twitter stelle dies keinen unzumutbaren Aufwand dar, arbeiteten die Richter heraus. Zumindest habe der Betreiber einen solchen nicht konkret dargelegt. Dem Betreiber werde keine allgemeine Überwachungspflicht der Tweets aller seiner rund 237 Millionen Nutzer auferlegt. Es gehe nur um die konkret beanstandete Persönlichkeitsrechtsverletzung.

Bereits im April hatte die gleiche Frankfurter Kammer nach einer Klage der Grünen-Politikerin Renate Künast gegen Facebook entschieden, dass dies den Plattformen zuzumuten ist. Als zulässig erachtete das Gericht dagegen die Äußerung eines Nutzers, wonach Blume in die jährlich vom "Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles" veröffentlichte Liste der größten Antisemiten weltweit aufgenommen worden ist. Unabhängig davon, ob dies gerechtfertigt sei, dürfe darüber informiert werden. Dagegen müsse sich der Antisemitismusbeauftragte "im öffentlichen Meinungskampf" zur Wehr setzen.

Blume selbst vermutet hinter dem Zentrum in Kalifornien rechte Trolle und Trump-Anhänger. Dies legte er in einem Blogbeitrag dar. Das eigentliche Simon-Wiesenthal-Institut sitze in Wien und befürworte seine Tätigkeiten.

Der Antisemitismus-Beauftragte hatte vor Beschreiten des Rechtswegs 46 diffamierende Tweets mehrfach und sogar mit anwaltlicher Unterstützung unter Bezug auf das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) gemeldet. Erst über eine Woche später sperrte Twitter den für die Kampagne vor allem verantwortlichen Account, womit auch die streitigen Kommentare verschwanden. Den juristischen Erfolg der erwirkten einstweiligen Verfügung widmete Blume dem medizinischen Berater des Weißen Hauses, Anthony Fauci, der vor allem während der Corona-Pandemie für Schlagzeilen sorgte und sich klar für Infektionsschutz einsetzte. Der neue Twitter-Eigentümer Elon Musk habe diesen vor Kurzem direkt auf der Plattform angegangen. "Aber die Verleugnung von Wissenschaft, die Verbreitung von Hassrede und Verschwörungsmythen ist keine Meinungsfreiheit, sondern ein Angriff auf Menschenleben und jede Demokratie," so Blume.

Als guten Tag für die Würde des Menschen, die Meinungsfreiheit und den demokratischen Rechtsstaat feierte Blumes Anwalt Chan-jo Jun die Entscheidung auf Twitter. Dessen Regeln gälten für alle – "nicht nur für Milliardäre und anonyme Trolle". Der Jurist erläuterte auf der Plattform auch einige Details des Urteils, das bald auf dem hessischen Justizportal veröffentlicht werden soll.

Die Hilfsorganisation HateAid, die Blume bei der Klage unterstützt, sprach von einem Musterverfahren. Um die beobachteten "systemischen Defizite in der Content-Moderation auf Twitter" abzustellen, seien die Beteiligten bereit, durch alle Instanzen zu ziehen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, eine Berufung beim Oberlandesgericht Frankfurt ist möglich. Zugleich ist das Hauptsacheverfahren noch anhängig, in dem etwa über die Zulässigkeit von Schadensersatzforderungen Betroffener verhandelt werden soll.

(kbe)