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Vor 10 Jahren: Stephen Elop springt von Nokias "brennender Plattform"

Volker Briegleb

Stephen Elop springt.

(Bild: Nokia)

Per Memo kündigt der CEO einschneidende Veränderungen an. Am Ende sind Nokia, Windows Phone und zwei CEOs weg vom Fenster – und tausende Nokianer ihren Job los.

"Hallo zusammen." So ungezwungen beginnt Stephen Elop sein internes Memo, mit dem er die Belegschaft des weltgrößten Handyherstellers auf einen harten Kurswechsel einschwören will. Der neue CEO, gerade erst von Microsoft auf den Chefsessel bei Nokia gewechselt, soll den "finnischen Patienten" kurieren und zukunftsfähig machen. Gelingen soll das ausgerechnet mit Windows Phone, dem auch nicht gerade kraftstrotzenden Smartphone-OS aus Redmond. Elop weiß, dass er dafür viel Überzeugungsarbeit leisten muss.

In seinem an die Medien durchgesteckten internen Memo beschönigt der ehemalige Microsoft-Manager nichts. "Wir stehen auf einer 'brennenden Plattform' [1] und wir müssen entscheiden, wie wir unser Verhalten ändern", schrieb Elop und verwies auf gleich mehrere Brandherde. Nokia hatte aus seiner Position der Stärke heraus einfach weitergewurschtelt, während Apple und Android mit ihren Ökosystemen den Markt auf den Kopf stellten. Elop verordnete den Finnen den Sprung ins kalte Wasser.

Drei Jahre zuvor war die Smartphone-Welt eine andere – und für Nokia noch in Ordnung. Die Finnen waren Marktführer, das hauseigene Symbian das System der Stunde. Auf zwei von drei der rund 120 Millionen in diesem Jahr verkauften Smartphones lief Symbian. Mit Abstand und einem Marktanteil von jeweils um die 10 Prozent folgen die beiden anderen relevanten Smartphonesysteme der frühen Jahre: RIMs Blackberry und Microsofts Windows Mobile. Keine dieser Plattformen spielt heute noch eine Rolle.

Dabei waren die Zeichen schon 2007 nicht mehr zu übersehen. Auf der Macworld im Januar hatte Steve Jobs das iPhone vorgestellt [2], das im Sommer in den USA in den Handel kam und in Europa ab November erhältlich war. Mit dem iPhone und dem neuen iOS kam Apple aus dem Stand auf einen Marktanteil von fünf Prozent. Spätestens da schrillen in Espoo, Redmond und Waterloo die Alarmglocken. Aber das Establishment ist zu träge und nicht gut vorbereitet – und sie unterschätzen den neuen Wettbewerber kolossal.

Die Nokia-Führung unter CEO Olli-Pekka Kallasvuo tat Apples Smartphone noch ein Jahr später als "Nischenprodukt" ab. Auch Microsoft-CEO Steve Ballmer sah "keine Chance, dass das iPhone einen nennenswerten Marktanteil erringen wird". RIM-Gründer Mike Lazaridis erkannte zwar, dass Apple ein starkes Produkt hatte. "Diese Typen sind richtig, richtig gut", soll er zu seinem Co-CEO Jim Balsillie gesagt haben. Doch der meinte nur: "Es ist okay, wir schaffen das." Haben sie nicht.

Drückt man anderthalb Augen zu, hatten Kallasvuo und Ballmer mit der "Nische" irgendwie auch Recht. Zwar ist es inzwischen eine stattliche Nische, doch Apple hat den Markt nicht im Handstreich übernommen. Aber das iPhone hat Smartphones nicht nur technisch neu gedacht, sondern auch die Mechanismen des Geschäfts fundamental verändert. iPhone, iOS und der 2008 eingeführte App Store bildeten ein Ökosystem, auf das die etablierte Konkurrenz keine Antwort wusste.

Marktanteile der Smartphone-Betriebssysteme 2007 - 2018.

(Bild: heise online)

Die hatte dafür ein anderer Newcomer im Mobilfunkbusiness, der vom Establishment ebenso sträflich unterschätzt wurde. 2005 hatte Google ein kleines Start-up übernommen, das ein Betriebssystem für Digitalkameras entwickeln wollte. Unter der Ägide des Suchmaschinenriesen bekam das von Andy Rubin gegründete Softwareunternehmen eine neue Mission: Statt auf Kameras sollte das System auf Smartphones laufen. Das Ergebnis wurde noch 2007 vorgestellt: Android [3].

Bei Nokia haben sie auch diesen neuen Konkurrenten kleingeredet. "Unser Betriebssystem Symbian wird in den kommenden Jahren das dominierende System bleiben", lässt sich Anssi Vanjoki noch 2009 zitieren. "Android ist vor allem ein Hype. [4]" Dabei wussten die Finnen da längst, dass sie ein Problem haben, das "Symbian" heißt – und arbeiteten an einer Alternative namens Maemo. Doch Diadochenkämpfe und eine verfettete Konzernstruktur verhinderten eine schnelle Reaktion. Als sich der finnische Patient [5] endlich bewegt, ist es schon zu spät.

2009 der letzte Schrei: Das T-Mobile G1 ist das erste Android-Smartphone.

(Bild: heise online)

Im Herbst 2008 kam mit dem T-Mobile G1 das erste Android-Smartphone auf den Markt. Zwei Jahre später hat Android einen Marktanteil von rund 30 Prozent – zu Lasten von Blackberry, Symbian und vor allem Windows. Auf dem Mobile World Congress 2010 bündeln Intel und Nokia ihre Kräfte [6] und wollen mit dem offenen Betriebssystem MeeGo die Wende einleiten. MeeGo sollte Nokias N-Serie wettbewerbsfähig machen [7]. Symbian hat damit keine Zukunft mehr.

Doch glaubt der Verwaltungsrat da schon nicht mehr, dass der Kurswechsel mit Kallasvuo gelingen kann. Schon länger wurde über die Entlassung des CEOs spekuliert. Im Spätsommer 2010 wurde es dann offiziell: Nokia wirbt Office-Manager Stephen Elop von Microsoft ab [8]. Der braucht nicht lange, um den Ernst der Lage zu erfassen – und schreitet zur Tat. Es gibt Gerüchte, dass er alte Zöpfe wie Symbian und MeeGo radikal abschneiden und alles auf eine Karte setzen will: Windows Phone.

Elop nahm keine Rücksicht auf finnische Gefühle. Der Kanadier legte den Finger in die offene Wunde: "Das erste iPhone wurde 2007 ausgeliefert, und wir haben immer noch kein Gerät, das ihm gleichkommt", schrieb Elop in seinem Bohrinsel-Memo. "Android betrat die Szene gerade einmal vor zwei Jahren, und in dieser Woche haben sie unsere Führungsrolle bei Smartphone-Auslieferungen übernommen. Unglaublich." Zu behäbig sei Nokia darin, die eigene Innovationskraft auch auf die Straße zu bringen. "Wir müssen uns also entscheiden, wie wir entweder ein Ökosystem bauen oder es vorantreiben oder uns an einem Ökosystem beteiligen."

Die Entscheidung war da längst gefallen. Elop springt und wird unten von Steve Ballmer aufgefangen [9]. In einer denkwürdigen Pressekonferenz am 11. Februar 2011 erklären die Ex-Kollegen ihren Deal. "Wir hatten drei Optionen", sagte Elop: Ein eigenes "Ökosystem" mit MeeGo aufzubauen, auf den schneller werdenden Android-Zug aufzuspringen oder sich mit Microsoft ins Bett zu legen. Für eine interne Lösung fehlte Elop das Vertrauen, Nokia könne das schnell genug bewältigen. Bei Android sah er die Gefahr, Nokias Alleinstellung zu verwässern: "Android ist ein schwarzes Loch."

Also Türchen Nr. 3: Windows Phone versprach "einen schnelleren Zugang zum Markt", auch wenn der Anteil noch klein war. Microsoft sah die Chance, seine junge, noch unfertige Plattform [10] mit konkurrenzfähiger Hardware vom Marktführer attraktiver zu machen. Elop und Ballmer wollen den Wettbewerb mit Android und iOS aufnehmen: "Es sind jetzt drei Pferde im Rennen". Die Konkurrenz spottet. "Zwei Truter ergeben noch keinen Adler", twittert Google-Manager Vic Gundotra.

Er sollte Recht behalten. Elops Wette ging nicht auf. Nokias Marktanteile sanken trotz solider Smartphones. Windows Phone, obwohl inzwischen zu einem guten Betriebssystem gereift, konnte sich nicht durchsetzen [11]. Elop bekam kalte Füße und Gerüchte über ein geplantes Android-Smartphone [12] machten die Runde. Ballmer kam der befürchteten Abwendung von Windows Phone zuvor: Für rund 5,5 Milliarden Euro verleibte sich Microsoft Nokias Handysparte ein [13].

Ballmer war da schon auf dem Absprung, kurz zuvor hatte Microsoft den Generationswechsel an der Konzernspitze angekündigt. Die Nokia-Übernahme war Ballmers letzter Deal – und wohl sein größter Fehler. Nur ein Jahr später stellt sich sein Nachfolger Satya Nadella der Realität [14] und wickelt das Handy-Geschäft gnadenlos ab. Abertausende Mitarbeiter, die meisten von ihnen Ex-Nokianer, verlieren ihre Jobs [15]. Microsoft schreibt einen Milliardenbetrag ab [16] und begräbt seine Smartphone-Ambitionen endgültig. Elop muss gehen [17].

Die Plattform ist abgebrannt. Nokia-Smartphones gibt es wieder, aber von einem neuen Hersteller, der aus den Ruinen des Microsoft-Desasters eine Lizenz für die immer noch wertvolle Marke erworben hat. Was bleibt, ist die Erkenntnis, ist die Erinnerung an das Nokia N9 [18], das für einen kurzen Moment den Blick auf eine alternative Zeitlinie freigab. Und MeeGo hat das Desaster überlebt: Bei Jolla entwickeln ehemalige Nokianer das System als SailfishOS weiter [19], in Kürze erscheint Version 4.0.

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(vbr [21])


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[1] https://www.heise.de/news/Nokia-Chef-Unsere-Plattform-brennt-1186007.html
[2] https://www.heise.de/news/Macworld-Das-iPhone-von-Apple-gibt-es-wirklich-132636.html
[3] https://www.heise.de/news/Das-Google-Phone-ist-ein-Android-192392.html
[4] https://www.heise.de/news/Nokia-Android-ist-ein-Hype-871093.html
[5] https://www.heise.de/news/Der-finnische-Patient-1185524.html
[6] https://www.heise.de/news/Mobiles-Linux-Aus-Moblin-und-Maemo-wird-MeeGo-930944.html
[7] https://www.heise.de/news/Nokias-N-Serie-bald-nur-noch-mit-MeeGo-1029043.html
[8] https://www.heise.de/news/Nokia-holt-Chef-von-Microsofts-Office-Sparte-an-die-Konzernspitze-Update-1076478.html
[9] https://www.heise.de/news/Nokia-Microsoft-Der-finnische-Patient-springt-1188290.html
[10] https://www.heise.de/news/MWC-Windows-Mobile-bekommt-den-Zune-Look-931289.html
[11] https://www.heise.de/news/5-Jahre-Windows-Phone-Der-ewige-Dritte-2851231.html
[12] https://www.heise.de/news/Nokia-X-3-Billig-Smartphones-mit-Android-aber-ohne-Google-2122001.html
[13] https://www.heise.de/news/Microsoft-kauft-Nokias-Kerngeschaeft-1947127.html
[14] https://www.heise.de/news/Kahlschlag-bei-Nokia-Microsoft-Chef-stellt-sich-der-Realitaet-2262529.html
[15] https://www.heise.de/news/Microsoft-baut-weitere-Nokia-Jobs-ab-3218133.html
[16] https://www.heise.de/news/Microsoft-Milliardenverlust-aufgrund-des-Nokia-Debakels-2758792.html
[17] https://www.heise.de/news/Konzernumbau-Ex-Nokia-Chef-Elop-verlaesst-Microsoft-2715151.html
[18] https://www.heise.de/news/MeeGo-Smartphone-von-Nokia-1264193.html
[19] https://www.heise.de/news/Jolla-Sailfish-OS-3-4-Mehrbenutzerbetrieb-und-Updates-fuer-Browser-sowie-E-Mail-4929470.html
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