MIT Technology Review 7/2023
S. 3
Editorial
, Foto: Ricardo Wiesinger
Foto: Ricardo Wiesinger

Liebe Leserinnen und Leser,

von Kindesbeinen an faszinieren mich virtuelle Welten: Damals war es noch ein C64 mit einer Datasette und verpixelter Grafik – und Spielen wie Turrican, Maniac Mansion oder Giana Sisters.

Heute kann ich mir die Monitore quasi auf den Kopf setzen. In aktuellen VR-Brillen sind nicht einmal mehr Pixel zu erkennen, sie laufen nahezu latenzfrei und stellen virtuelle Welten detailverliebt wie noch nie dar. Und jetzt betritt auch noch Apple den Markt für räumliches Computing mit einem klaren Bekenntnis zu Augmented Reality. Wird das der VR- / AR-Technik zum Durchbruch verhelfen?

Noch ist der Markt klein. So faszinierend die Technik ist, bisher sind die Anwendungsszenarien sehr speziell – etwa in der Medizin (Seite 34) oder in der Industrie (Seite 42). Selbst im Gaming-Bereich fristet die Technik ein Nischen-Dasein.

Und dennoch gilt es bereits jetzt darüber nachzudenken, wie eine Welt aussehen wird, in der räumliches Computing Alltag ist. Wie verändert sich die Wahrnehmung von Realität, wenn solche Brillen Dinge ins Sichtfeld projizieren, die nur digital existieren (Seite 14)? Wir sehen bereits heute, wie stark Fake-Bilder und -News unsere Wirklichkeit beeinflussen. Und welche Auswirkungen werden räumliche Computer wie AR- und VR-Brillen auf das soziale Miteinander haben?

„Es wird Schichten von Realität geben, zwischen denen wir navigieren“, sagt der japanische AR-Designer und Filmemacher Keiichi Matsuda (Seite 22). Heißt: Je nach Kontext und Ort werden wir unterschiedliche Dinge sehen und erleben. Wie stellen wir dann noch so etwas wie eine gemeinsame Realität dar, wenn jeder etwas anderes sieht?

Auch wenn die Technik durchaus fortgeschritten ist, gibt es noch große Herausforderungen. Vor allem Augmented Reality kämpft bisweilen mit den Gesetzen der Physik (Seite 26). Oder das Thema Motion Sickness: Die Diskrepanz zwischen Bewegungen in der virtuellen und der „echten“ Realität sorgt bei nicht wenigen immer noch für Übelkeit (Seite 50) – ein physiologisches Problem, das sich nicht so einfach aus der Welt schaffen lässt.

Dennoch: Der räumliche Computer scheint der nächste logische Evolutionsschritt in der Computertechnologie zu sein – vor allem dann, wenn es eines Tages möglich sein wird, virtuelle Menschen nahezu lebensecht ins eigene Sichtfeld zu projizieren. Deshalb können wir uns gar nicht früh genug – am besten jetzt – mit den Chancen und Folgen des „nächsten Computers“ auseinandersetzen.

Ihr

Luca Caracciolo

@papierjunge