Fahrbericht Moto Guzzi Stelvio: Aufgeschlossen​ zur Reiseenduro-Konkurrenz

Die elegante Reiseenduro funktioniert überraschend gut. Ihr wassergekühlter V2 bietet jederzeit genügend Kraft, um das Gewicht freudvoll um Kurven zu bewegen.

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Moto Guzzi Stelvio ​

(Bild: Moto Guzzi)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Ingo Gach
Inhaltsverzeichnis

Als Moto Guzzi vergangenes Jahr die V100 Mandello mit dem ersten wassergekühlten Motor der Firmengeschichte auf den Markt brachte, kam das einer Revolution gleich. Die Marke aus Mandello del Lario war seit über einem halben Jahrhundert auf den längseingebauten 90-Grad-V2-Motor mit Luftkühlung festgelegt. Schon in dem Sporttourer überzeugte mich der neue 1042 cm3 große Antrieb nicht nur mit viel Drehmoment, sondern auch einer Drehfreude, wie ich sie von einer Moto Guzzi bisher nicht gekannt hatte. Er leistete 115 PS bei 8700/min und 105 Nm bei 6750/min. Dass der Motor mit dem Kardanantrieb in der Einarmschwinge sich auch bestens für eine Reiseenduro eignen würde, stand außer Frage.

Die neue Stelvio – benannt nach dem höchsten Pass in den italienischen Alpen – erfüllt alle modernen Ansprüche, außer den eines semi-aktiven Fahrwerks. Auf der ausgiebigen Testfahrt aber konnte mich das manuell einstellbare Fahrwerk so überzeugen, dass ich erfreut feststelle: Es kann auf elektronische Einflussnahme problemlos verzichten. Die Stelvio übernimmt nur wenige Teile von der Straßenmaschine V100 Mandello, selbst der Rahmen wurde 20 Prozent steifer, außerdem weist er vorn vier Aufhängepunkte, anstatt zwei auf. Die Wandstärke der Einarmschwinge wurde dem Einsatzzweck angepasst und wuchs von fünf auf sieben Millimeter.

Schon ihr erster Anblick zeigt: Die Italiener wissen, wie man elegante Motorräder baut. Das Design ähnelt dem der V100 Mandello und ist dennoch eigenständig. Die Falten in der Verkleidung sind im Vergleich zum Sporttourer geglättet und die Designer begingen nicht den Fehler, sie zu wuchtig zu gestalten. Im Gegenteil, sie wirkt sportlich schlank und man traut ihr auch Geländeeinsätze bedenkenlos zu. Das erste Aufsitzen hält die nächste Überraschung parat: nur 830 mm Sitzhöhe. Selbst Fahrer um die 1,70 m kommen problemlos mit beiden Füßen auf die Erde, auch dank einer kurzen Schrittbogenlänge.

Fahrbericht Moto Guzzi Stelvio (7 Bilder)

Die neue Moto Guzzi Stelvio erweist sich als elegante Reiseenduro, die absolut auf der Höhe der Zeit ist.
(Bild: Moto Guzzi)

Dabei erweist sich die Sitzbank auf der über 200 km langen Fahrt als ausgesprochen bequem. Über den Soziuskomfort können wir zwar mangels Passagiers nach dieser ersten Fahrt noch keine Auskunft geben, aber ihm steht auf jeden Fall ein großzügig bemessener Sitz zur Verfügung und die Fußraste sind niedrig genug für einen entspannten Kniewinkel. Das gilt auch für die Fahrerfußrasten mit ihren abnehmbaren Gummieinsätzen, die Vibrationen eliminieren. Wer sie entfernt, kann seine Cross-Stiefel auf gezahnten Stahlfußrasten parken und sicheren Grip genießen. Der breite Lenker liegt gut zur Hand und die Lenkerklemmung sitzt dank einer Erhöhung auf der oberen Gabelbrücke auch relativ hoch, was wiederum dem Enduristen beim Stehendfahren im Gelände zugutekommt.

Eine Keyless-Funktion sucht man an der Stelvio vergeblich, sie wird ganz traditionell mit einem Zündschloss aktiviert. Dann meldet das fünf Zoll große TFT-Display Betriebsbereitschaft mit dem Moto-Guzzi-Schriftzug und einem Adler-Logo, dem Markenzeichen von Moto Guzzi, der sich auch stilisiert als LED-Tagfahrlicht in der Front befindet. Der Bildschirm erweist sich als erfreulich übersichtlich und die Bedienung über die vier Tasten am linken Lenkerende als narrensicher. Fünf Fahrmodi, Tour, Rain, Road, Sport und Off-Road stehen zur Auswahl. Sie lassen sich über das Menü im Ansprechverhalten des elektronischen Gasgriffs, der Schlupfregelung und des ABS noch individuell einstellen. Über eine Taste am rechten Lenkerende können auch während der Fahrt die Modi gewechselt werden. Ich entscheide mich zunächst für den Road-Modus und lege den ersten Gang mit dem Guzzi-typischen "Klong" ein. Danach bräuchte ich die hydraulisch betätigte Kupplung bis zur nächsten Ampel theoretisch nicht mehr, denn meine Test-Stelvio verfügt über einen leider aufpreispflichtigen bidirektionalen Quickshifter. Doch er arbeitet zwar ab dem mittleren Drehzahlbereich anstandslos, darunter macht er sich aber gelegentlich mit einem leichten Rucken bemerkbar.

Der Motor erfüllt in der Stelvio die Abgasnorm Euro 5+ und zieht von der Standgasdrehzahl nachdrücklich und dennoch sanft an. Auch wenn er schon früh ordentlich Drehmoment aufbaut, mag er im Stadtverkehr bei Tempo 50 lieber den fünften als den sechsten Gang. Ich weiß zwar, dass die Stelvio mit vollem 21-Liter-Tank 246 kg auf die Waage bringt, aber davon ist selbst bei niedrigen Geschwindigkeiten nichts zu spüren. Sie fühlt sich während der Fahrt nach mindestens 30 kg weniger an und lässt sich mit Leichtigkeit dirigieren. Dabei entfleucht ein wohliger, aber niemals zu lauter V2-Sound dem kurzen Endschalldämpfer, aus dessen Endstück zwei Auspuffrohre ragen. Die Stelvio rollt auf Drahtspeichenrädern, wie es Enduristen mögen. Dabei sind die Felgen außermittig eingespeicht, um schlauchlose Reifen aufnehmen zu können. Als Erstausrüstung wählte Moto Guzzi den sehr guten Michelin Anakee Adventure, der hauptsächlich für die Straße gedacht ist, aber auf Schotterpisten noch genügend Grip bietet.

Den bevorzugten Asphalteinsatz spiegelt auch der 120 mm breite 19-Zoll-Vorderreifen wider, der williger in Kurven einlenkt und satter liegt als ein 21-Zöller. Für das Hinterrad griff Moto Guzzi zur mittlerweile gängigen Reiseenduro-Dimension 170/60-17. Als hinter der Stadt die ersten kurvigen Landstraßen auftauchen, legt die Stelvio sich gleich mächtig ins Zeug. Im Modus "Sport" ändert sich der Charakter, der V2 geht direkter ans Gas. Der Spaßfaktor steigert sich und die Stelvio dreht locker hoch, scheut keine hohen Drehzahlen und erreicht den roten Bereich bei 9000/min ohne Mühen. Das Sechsganggetriebe wurde vom Hersteller für die Reiseenduro optimiert. Dabei kann die Guzzi auch lässig im höchsten Gang bewegt werden, denn ab 3500 Touren liegen dauerhaft 83 Prozent des maximalen Drehmoments an.

Ihre Schräglagenfreiheit ist beachtlich, nur ganz selten kratzen die Fußrasten, deren Angstnippel Moto Guzzi für die Ausfahrt entfernt hat, über den Asphalt. Allerdings sitze ich durch den langen Tank ziemlich weit vom Lenker weg und kann daher nicht nach vorn rutschen, um in Kurven Druck auf das Vorderrad zu bringen. Nachdem ich mich an die Eigenart gewöhnt habet, kann ich die Stelvio sehr flott durch das Kurvengeschlängel führen. Anti-Hopping-Kupplung und Quickshifters lassen dabei die Gänge flott runterschalten. Den elektrisch um 70 mm verstellbaren Windschild habe ich ganz runtersurren lassen, um störungsfreie Sicht auf die Straße zu haben. Der bessere Windschutz in der höchsten Position macht sich ohnehin erst ab Autobahnrichtgeschwindigkeit bemerkbar.

Einflüsse des Kardanantriebs auf das Fahrwerk kann ich nicht feststellten, er verhält sich völlig unauffällig. Vorne arbeitet eine Upside-down-Gabel von Sachs auf 170 mm Federweg, die sich in der Vorspannung und Zugstufe einstellen lässt. Hinten wählte Moto Guzzi ein direkt angelenktes Federbein von KYB, ebenfalls mit 170 mm Federweg und in Zugstufe sowie Vorspannung einstellbar. Beide Federelemente sorgen für eine ruhige Fahrt, solange der Asphalt nicht zu holprig wird, denn die Grundabstimmung tendiert eher in Richtung straff. Trotzdem gibt das Fahrwerk keinen Anlass zur Klage und gewährt ordentlichen Komfort, kann aber auch sportlich überzeugen. Die beiden Brembo-Bremszangen am Vorderrad verzögern jederzeit nachdrücklich, aber nie übertrieben bissig, die hintere Bremse unterstützt dabei unauffällig. Die Stelvio verfügt über Kurven-ABS, das sich als sehr feinfühlig erweist.

Fahrbericht Moto Guzzi Stelvio (8 Bilder)

Mit der Stelvio präsentiert Moto Guzzi nicht nur eine optisch gelungene Reiseenduro, sondern liegt auch auf Höhe der etablierten Konkurrenz.
(Bild: Moto Guzzi )

Beim Abbiegen auf die Schotterpiste schalte ich den Enduro-Modus ein und die Schlupfregelung aus. Leider deaktiviert der Modus nur das ABS am Hinterrad, am Vorderrad bleibt es aktiv. Auf der Piste schlägt sich die Stelvio wacker, nimmt sicher die Kurven auf dem losen Untergrund und lässt sich zu dezenten Drifts überreden. Die Michelin-Anakee-Adventure-Reifen bieten auf Schotter besseren Vortrieb als vermutet. Sich hinzustellen klappt dank der ohnehin sehr aufrechten Sitzposition ganz locker und die Körperhaltung im Stehendfahren bleibt entspannt. Der vorne sehr breite Tank läuft nach hinten in eine schmale Taille aus, was die Beine nicht zu sehr spreizt und einen akzeptablen Knieschluss zulässt.

Wieder auf dem Asphalt leuchtet gelegentlich der Abstandswarner auf. Mein Testmotorrad ist mit dem aufpreispflichtigen "PFF Rider Assistance Solution" ausgestattet. Dank Radar vorn und hinten und warnt es den Fahrer vor zu knappem Abstand zum Vorausfahrenden sowie Fahrzeugen im toten Winkel. Bei Unterschreiten des Mindestabstands erscheint zunächst ein dezentes, gelbes Warn-Symbol am oberen Displayrand, bei viel zu knappem Abstand leuchtet mittig ein grell rotes Symbol auf und ein Warnton macht unmissverständlich auf das Fehlverhalten aufmerksam. Befindet sich ein Fahrzeug in einer Distanz von fünf Metern hinter mir, erscheint ein gelber Punkt im Rückspiegel und im Display. Möchte ich die Fahrspur wechseln, warnt mich der Spurwechselassistent, wenn sich ein Objekt innerhalb von 30 Meter hinter mir schnell nähert. Künftig soll auch ein adaptiver Abstandsregeltempomat angeboten werden.

Nach 220 km Fahrt meldet der Bordcomputer einen Verbrauch von 5,3 Liter, eine theoretische Reichweite von 396 km also, allerdings war die Route inklusive Schotterpiste nicht sonderlich repräsentativ. Moto Guzzi bietet eine Menge Zubehör für seine Reiseenduro an. Selbstverständlich sind Koffer (30 und 28 Liter Volumen) dabei und gleich zwei verschiedene Topcases, das größere mit sagenhaften 57 Liter Inhalt, in das zwei Helme passen. Des Weiteren gibt es unter anderem einen höheren Windschild, Heizgriffe, beheizte Sitze in höher, niedriger und Standardhöhe, Sturzbügel, Zylinderkopfschutz, Hauptständer, Zusatz-LED-Scheinwerfer und einen zusätzlichen USB-Anschluss unter dem Sitz.

Moto Guzzis elegante Reiseenduro kann im Test absolut überzeugen. Gegen Aufpreis gibt es sie auch mit Radar und Abstandwarner. Wir lehnen uns mal weit aus dem Fenster und behaupten, die Stelvio ist das beste Motorrad, das Moto Guzzi in seiner 103jährigen Geschichte je gebaut hat. Moto Guzzi ruft für die Stelvio in den Lackierungen "Giallo Savana" und "Nero Vulcano" 16.499 Euro auf, mit der "PFF Rider Assitance Solution" sind es 17.299 Euro. Dafür bekommt der Käufer eine elegante Reiseenduro mit gutem Komfort und durchaus sportlichem Talent. Für Moto-Guzzi-Fans, die gerne auf Tour gehen, steht die Wahl außer Frage, aber auch Fahrer, die bislang mit der Marke eher nicht geliebäugelt haben, sei eine Probefahrt empfohlen, denn mit der Stelvio hat Moto Guzzi zur Konkurrenz aufgeschlossen.

Hersteller Moto Guzzi
Modell Stelvio
Motor und Antrieb
Zylinder 2
Ventile pro Zylinder 4
Hubraum in ccm 1042
Bohrung x Hub (mm) 96 x 72
Leistung in kW (PS) 85 (115)
bei U/min 8700
Drehmoment in Nm 105
bei U/min 6750
Antrieb Kardan
Getriebe Sequenzielles Schaltgetriebe
Gänge 6
Fahrwerk
Rahmen Stahlbrückenrahmen
Radaufhängung vorn Upside-Down-Telegabel
Radaufhängung hinten Aluminium-Einarmschwinge mit direkt angelenktem Federbein
Reifengröße vorn 120/70-19
Reifengröße hinten 170/60-17
Bremsen vorn Doppelscheibe, 320 mm, Vierkolben-Festsättel, radial montiert
Bremsen hinten Einzelscheibe, 280 mm, Einkolben-Schwimmsattel
Lenkkopfwinkel in Grad 64,4
Nachlauf in mm 116
Federweg in mm v/h 170/170
Maße und Gewichte
Radstand in mm 1520
Leergewicht in kg 246
Tankinhalt in Litern 21
Sitzhöhe in mm 830

(fpi)