Digitale Krümel statt GPS

Microsoft-Forscher wollen mit einem neuartigen Sensorhandy eine exakte Orientierung in Umgebungen ermöglichen, in denen keine Satellitennavigation zur Verfügung steht. Das Gerät könnte die Arbeit von Gerichten oder Rettungsdiensten erleichtern, aber auch die Überwachung intesivieren.

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Von
  • Evan I. Schwartz

Die "Greenfield"-App des Navigationssystems sammelt auch Daten wie die Anzahl der zurückgelegten Schritte oder Richtungsänderungen.

(Bild: Microsoft)

Microsoft-Forscher wollen mit einem neuartigen Sensorhandy eine exakte Orientierung in Umgebungen ermöglichen, in denen keine Satellitennavigation zur Verfügung steht. Das Gerät könnte die Arbeit von Gerichten oder Rettungsdiensten erleichtern, aber auch die Überwachung intesivieren.

Die Orientierung zu behalten ist nicht erst ein Problem unserer schnelllebigen Tage. Schon Hänsel und Gretel legten im gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm eine Spur aus Brotkrumen, um sich nicht im Wald zu verlaufen. Die Krümel wurden allerdings von Vögeln weggefressen. Mit einem GPS-Gerät hätten die Geschwister es heute leichter – aber nur dort, wo auch GPS-Signale empfangen werden können.

Um auch in GPS-losen Umgebungen navigieren zu können, haben nun Microsoft-Forscher ein System entwickelt, das einen Weg anhand von „digitalen Brotkrumen“ verfolgt. Wann immer sich ein Nutzer in Gebäuden, in U-Bahn-Netzen oder in den Tiefen von Parkhäusern bewegt, sammelt das System Sensordaten. Ein Beschleunigungsmesser registriert etwa die Bewegung, ein Kompass die jeweilige Bewegungsrichtung und ein Barometer die Höhenlage anhand von Luftdruckschwankungen. Diese und andere Sensoren hat Microsoft in einen Handy-Prototyp namens „Menlo“ eingebaut.

In dem werden die Daten kontinuierlich in die Anwendung „Greenfield“ eingespeist. Sie soll das Hänsel-und-Gretel-Problem lösen, indem sie die Sensordaten speichert und auswertet. Auf diese Weise soll ein Nutzer nicht nur abrufen können, wieviele Stockwerke er gerade in einem Aufzug zurückgelegt hat oder in welche Himmelsrichtung er nach wiederholtem Rechts- und Linksabbiegen schaut. Er soll auch den Weg, den er zurückgelegt hat, exakt zurückverfolgen können.

Die Microsoft-Forscher bezeichnen Greenfield als „Aktivitäts-basierte Navigation“. Im September wollen sie das System auf der MobileHCI-Konferenz in Lissabon vorstellen. In dem dazugehörigen Konferenz-Paper zitieren sie das 2002 erschienene Buch „Inner Navigation“. Darin beschreibt Autor Erik Jonnson, dass jeder von uns Probleme damit hat, „kognitive Landkarten“ zu erstellen. Selbst Menschen mit einem hervorragenden Orientierungssinn blieben nicht davon verschont und würden Orte mitunter in einer spiegelverkehrten Anordnung in Erinnerung behalten. „Ich glaube, jeder hat einen inneren Kompass“, schrieb Jonnson, „und wenn der Fehler macht, können die seltsamsten Dinge passieren.“

In ihrem Feldversuch schickten die Microsoft-Forscher die Probanden in zwei verschiedene Parkhäuser, um einen Gegenstand aus dem Wagen eines Kollegen zu holen. Jede Versuchsperson erhielt eine genaue Beschreibung des Wagens – Modell, Hersteller, Farbe, Autokennzeichen – sowie ein Menlo-Handy mit der Greenfiel-App.

Die hatte zuvor den Weg des Wagenbesitzers aus dem Parkhaus heraus mit den verschiedenen Sensoren vermessen. In einigen Fällen gab es sogar Fotos, die entlang des Weges aufgenommen worden waren.

Ergebnis: Alle Versuchspersonen fanden am Ende die gesuchten Wagen. Wie schnell, hing allerdings von der Menge der digitalen Krümel ab, die das Microsoft-Team ausgelegt hatte. Interessanterweise schafften es einige Personen, sich im Parkhaus zu verlaufen, obwohl man ihnen das Parkdeck und den Abschnitt gesagt hatte. Erst die Greenfield-App brachte sie ans Ziel.

„Mir war klar, dass so etwas machbar ist, aber ich habe mich gefragt, wann jemand mal all die einzelnen Teile zusammenfügt“, sagt Jeff Fischbach von der Beratungsfirma SecondWave Information System, anerkennend. Fischbach wird in Prozessen oft als Experte hinzugezogen, um die Aussagekraft von GPS-Daten als Beweismaterial zu überprüfen. Die Greenfield-App könnte dabei helfen, Alibis von Verdächtigen zu überprüfen, sagt der Forensiker. „Diese Art von Daten wäre hervorragend, um Leute schuldig oder frei sprechen zu können.“

Natürlich hat das System einen Haken: Weil die Daten auch über das Internet übertragen und empfangen werden können, sind sie eine weitere Bedrohung für die Privatsphäre. „Wie kontrollieren Sie, wer Zugriff auf die Daten hat?“, gibt Fischbach zu bedenken. Was wäre, wenn zum Beispiel Arbeitgeber sie nutzen, um ihre Mitarbeiter besser überwachen zu können?

An weiteren positiven Anwendungen mangelt es allerdings nicht. Die Greenfield-App könnte die Grundlage für neue Verfolgungsspiele im öffentlichen Raum sein, helfen, die Freunde in den Menschenmassen eines Stadions wiederzufinden, oder die Rettung von Bergsteigern und Wanderern ermöglichen. (nbo)