Britischer Datenschützer fordert Umdenken bei der Überwachung

Information Commissioner Richard Thomas ist nicht grundsätzlich gegen jede Überwachung, doch er befürchtet, Großbritannien wandle sich schleichend immer mehr zu einer Überwachungsgesellschaft.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 57 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.

Richard Thomas, in Großbritannien als Information Commissioner unabhängige Instanz für den Datenschutz, hat einen Bericht des Surveillance Studies Network darüber vorgelegt, wohin die Tendenzen der "Surveillance Society" (PDF-Datei, 102 Seiten, auf deutsch 25 Seiten) bis zum Jahr 2016 führen könnten. Der Bericht soll der heute in London gestarteten 28. International Conference of Data Protection and Privacy Commissioners als Diskussionsgrundlage dienen. Thomas hat nach eigenen Angaben bereits vor zwei Jahren davor gewarnt, dass die Briten gefährdet seien, in eine Überwachungsgesellschaft zu schlafwandeln. "Heute befürchte ich, dass wir aufwachen und um uns bereits die Überwachungsgesellschaft existiert."

Der Bericht untersucht die derzeit in Großbritannien angewendeten Überwachungsmaßnahmen, projiziert sie auf die kommenden zehn Jahre und behandelt mögliche gesellschaftliche Konsequenzen. Als Beispiele werden RFID als Warenkennzeichnung in Kleidung, das weltweite Satellitennavigationssystem, bio- und psychometrische Tests bei Angestellten eines Unternehmens, Schülerüberwachung für Eltern, Gesichtserkennungssysteme und Videoüberwachung aufgeführt. "Überwachung kann nützlich und wünschenswert sein", sagt Thomas, zum Beispiel im Hinblick auf die Bekämpfung von Terrorismus. Auf Dauer führe dies jedoch zu einem "Klima des Verdachts".

In Großbritannien sind etwa 4,2 Millionen staatliche und private Überwachungskameras installiert. Der Durchschnitts-Brite wird jeden Tag rund 300 Mal erfasst. Zudem werden täglich die Kennzeichen von 35 Millionen Autos registriert. In der nationalen DNA-Datenbank werden bereits die genetischen Daten von 3,5 Millionen Menschen gespeichert. Zugleich verfügen die Behörden über die Fingerabdrücke von rund sechs Millionen Menschen. Darüber hinaus hat jeder zweite erwachsene Brite freiwillig eine Kundenkarte in der Geldbörse, mit der seine Einkaufsgewohnheiten nachvollzogen werden können. Der Daily Telegraph kommt heute deshalb zu dem Schluss, dass Großbritannien zum "Big-Brother-Staat" geworden sei.

Kritik an Überwachung beziehe sich in erster Linie auf die Privatsphäre und damit auf einen Aspekt der individuellen Willensfreiheit, schreiben die britischen Datenschützer. Im Rahmen einer allgegenwärtigen Überwachung falle Anonymität, die es dem Menschen erlaube, der intensiven Überwachung kleinerer Gemeinschaften zu entgehen, als Erstes weg. "Die Privatsphäre ungeschützter Menschen oder Randgruppen verringert sich ständig", heißt es in dem Bericht, der das Schicksal britischer Strafgefangener als ein Beispiel anführt. Sie seien nicht nur im Gefängnis, sondern zunehmend auch nach ihrer Entlassung ständiger Kontrolle ausgeliefert.

Neben dem Punkt "Willensfreiheit" werden die seltener diskutierten Auswirkungen auf die Wahlfreiheit und das Einverständnis der Bürger sowie um die Auswirkungen der Sortierungs-, Kategorisierungs- und gezielten Werbemaßnahmen auf die Lebenschancen betrachtet. Dabei geht es um Fragen, wie und ob man sich aussuchen kann, dass man überwacht wird, wenn man gleichzeitig ein normales Leben führen möchte. Für eine Einzelperson sei es nahezu unmöglich, die Nutzung gesammelter Informationen und die Auswirkungen auf ihr Leben zu prüfen. Der ohnehin bereits existierende "digitale Graben" begünstige die Entwicklung, dass besser begüterte Menschen ihren "Datenschatten" besser beobachten können als weniger gut betuchte.

Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass Kontrolle der Überwachung in Großbritannien unter einigen allgemeinen Mängeln leide. So werde bisher lediglich reaktiv kontrolliert, also als Antwort auf bereits eingeführte technische Entwicklungen und Anwendungen. Auch habe sich die Kontrolle bisher hauptsächlich auf technische und verwaltungstechnische Punkte konzentriert, beziehe sich zumeist auf den persönlichen Datenschutz und seinen Wert für jede Einzelperson und werde größtenteils nichtöffentlich diskutiert.

In den Medien konzentriere sich die Debatte vor allem auf "Horrorgeschichten" über Datenschutzverletzungen und "Orwellsche Visionen". Berichte über Verstöße seien wichtig, doch würden allzu häufig die komplexen ethischen und gesellschaftlichen Fragen zur Überwachung nicht gestellt. Weiter heißt es: "Die Überwachungsdiskussion dreht sich meist um simple Ursache- und Wirkungsketten ('CCTV verhindert kriminelle Handlungen') oder schürt Ängste ('Wir werden alle kontrolliert'). Gleichzeitig werden abweichende Meinungen mit dem ebenso trügerischen wie gefährlichen Argument 'Wer nichts zu verbergen hat, braucht auch nichts zu fürchten' mundtot gemacht." (anw)