"Anonymous verändert sich gerade dramatisch"

Ein Interview mit Anonymous zeigt, dass hinter der Protestbewegung mehr steckt als bloße Lust an der Randale. Der lose Zusammenschluss wird immer politischer. Eines der Ziele: Die Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit um jeden Preis.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 11 Kommentare lesen
Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Jan-Keno Janssen

Erkennungszeichen von Anonymous: Die in "V for Vendetta" verwendete Guy-Fawkes-Maske.

(Bild: Anonymous)

Nach den DDoS-Attacken auf Wikileaks-Gegner gab es vor Anonymous kein Entkommen: Zahllose Medien berichteten über die Internet-Aktivisten, oft völlig falsch. Ein Interview, das wir per E-Mail mit Anonymous-Mitstreitern geführt haben, klärt die Hintergründe der Protestbewegung.

Anonymous betont: "Die Aussagen und Meinungen dieses Interviews entsprechen nicht der Sichtweise aller Anonymous. Dies ist prinzipbedingt nicht möglich, wie wir in den Antworten auf die Fragen genauer erklären. Die Aussagen entsprechen aber den Ansichten vieler Anonymous und wurden auch mit mehreren stark in die Bewegung involvierten Personen abgestimmt."

Was will Anonymous?

Das lässt sich – prinzipbedingt – nicht beantworten. Es gibt kein Ziel, das alle Anonymous unterstützen, daher können "alle Anonymous" auch nichts "wollen". Es zeichnet sich aber augenblicklich eine neue Entwicklung ab: Seit den Wikileaks-Reaktionen strömen verstärkt Unterstützer zu Anonymous, und diese haben sehr wohl eine Agenda. Aber auch dies ist nur ein Teil von Anonymous.

Wie stark hat sich die Zahl der aktiven Anonymous-Unterstützer seit Beginn der DDoS-Attacken auf Wikileaks-Gegner denn verändert? Wir hatten den Eindruck, dass beim Angriff auf mastercard.com wesentlich mehr Leute teilgenommen haben als sonst.

Die Operation-Payback-Proteste wurden in IRC-Chats organisiert.

Es ist grundsätzlich sehr schwierig, die Anzahl an Anonymous-Mitgliedern, die an irgendeiner Aktion teilnehmen, festzustellen. Über das IRC-Network kann man Tendenzen ablesen (aber keine Rückschlüsse auf absolute Zahlen ziehen, da nur ein kleiner Teil der an Operationen beteiligten Personen im IRC sind): Demnach war der 8. und 9. Dezember die Zeit, an der das IRC am stärksten ausgelastet war (mit teilweise 4000 Clients). Im Laufe der Woche hat diese Zahl stetig abgenommen; seit keine "offiziellen" DDoS-Angriffe mehr stattfinden, ist die Zahl nochmal deutlich heruntergegangen und ist nun stabil.

Unsere Einschätzung ist: Nach den ersten erfolgreichen DDoS-Angriffen wurden weitere Anonymous-Mitglieder motiviert, teilzunehmen. Vor allem durch die Berichterstattung sprangen aber plötzlich auch viele, die vorher nie etwas mit Anonymous zu tun hatten, auf den Zug auf. Im Laufe der Zeit, fiel das Interesse daran aber ab und viele Leute haben sich anderen Operationen innerhalb Anonymous gewidmet.

Grundsätzlich gilt: Je größer und klarer definiert der Gegner ist, desto größer wird auch Anonymous. Vor allem wenn das Ziel erstrebenswert und einleuchtend erscheint, kann sich Anonymous über regen Zufluss freuen. Während der Wikileaks-Affäre sind viele dieser Komponenten zusammengetroffen und haben für die große Masse neuer Anonymous gesorgt.

Haben Sie den Eindruck, dass sich – auch durch die Berichterstattung in den Medien – viele Neulinge an den Protesten gegen Wikileaks-Gegner beteiligt haben?

Wir können nicht genau einschätzen, inwieweit die Medien dies beinflusst haben, aber eines ist klar: Die Reaktionen der Regierungen, insbesondere der US-Regierung, auf die Wikileaks-Veröffentlichungen hat, wie bereits oben erwähnt, massiv Aktivisten zu Anonymous geführt, die vorher überhaupt nichts mit Anonymous zu tun hatten.

Tatsächlich ist ein Großteil derer, die nun an kreativen und produktiven Projekten arbeiten, ziemlich neu dazugestoßen. Das ist auch logisch: Anonymous war bisher nicht in diesem Ausmaß politisch und hatte keine besonders starke Agenda oder Ethik. Dies verändert sich gerade dramatisch. Durch die Wikileaks-Geschichte hat Anonymous auf einmal eine SEHR starke Agenda: Die Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit um jeden Preis.

Anonymous hat nach der Festnahme eines 16-jährigen Operation-Payback-Unterstützers die Operation Leakspin gestartet. War es tatsächlich die Festnahme, die ein Umdenken ausgelöst hat (weniger illegale, mehr legale Aktivitäten)?

Nein, das hatte damit überhaupt nichts zu tun. Als die Festnahme bekannt wurde, hatte das zunächst überhaupt keinen Einfluss auf weitere Angriffe und Angriffspläne.

Operation Leakspin ist eine von verschiedenen Operationen, die von Anonymous-Mitgliedern gestartet wurde, die erkannt haben, dass DDoS auf Dauer kein Mittel ist. Oder zumindest kein effektives Mittel.

Daraus darf man aber keinesfalls schließen, dass Anonymous künftig keine DDoS-Angriffe mehr durchführen wird. Es handelt sich schließlich um 4chan und /b/ und diese Masse lässt sich nicht kontrollieren. Die über Twitter verbreiteten Slogans "an angry hive, uncontrollable" etc. sind da durchaus keine Übertreibung.

Aber es gibt eben mittlerweile auch die kreative Kraft in Anonymous, die Operationen wie Leakspin, Operation Paperstorm oder Webseiten wie www.AnonNews.org erstellen. Und wir stellen fest, dass diese Kraft jeden Tag deutlich wächst. Und die Kraft darin ist erstaunlich. Zum Beispiel arbeiten wir derzeit daran, AnonNews mehrsprachig anzubieten. Dazu muss das Frontend übersetzt werden. Wir haben dies in einem sogenannten "Piratenpad" gemacht: Dabei handelt es sich um Etherpad, eine Software, um Text via Browser gemeinsam zu bearbeiten. Wir haben im IRC nach Hilfe gefragt: Innerhalb von wenigen Stunden hatten wir Übersetzungen in zehn Sprachen, sogar mazedonisch und koreanisch! Eine solche plötzlich aus dem Nichts entstehende Produktivität haben wir in noch keiner Firma erlebt.

Ganz prinzipiell ist dies auch die Methode, wie quasi alle Veröffentlichungen von Anonymous entstehen – seien es Manifeste, Pressemitteilungen, Texte jeder Art, etc: Viele daran Interessierte aus aller Welt arbeiten so beispielsweise gleichzeitig an einer Veröffentlichung. Dadurch kann Anonymous im Zweifelsfall sehr schnell und mit hoher Qualität veröffentlichen. Auch diese Antwort, die Sie jetzt lesen, ist in Kollaboration mit mehrenen Anonymous aus aller Welt geschrieben worden.

Anonymous hat ja – prinzipbedingt – keine "Führung". Wie aber wird zum Beispiel entschieden, welche Websites angegriffen werden? Wer entscheidet, welche Informationen an die Medien gegeben werden? Wie wird sichergestellt, dass die "Basis" einverstanden ist?

Am 18. Dezember will Anonymous mit "Operation Paperstorm" in die echte Welt.

(Bild: Anonymous)

Es ist richtig, dass Anonymous prinzipbedingt keine Führung hat. Das heißt aber nicht, dass dies auf einzelne Operationen zutrifft, diese sind durchaus geführt und geplant. Bei Operation Payback beispielsweise wurde über die Ziele tatsächlich abgestimmt. Es wurden mehrere Ziele zur Wahl vorgeschlagen (Mastercard, Paypal, US-Senat, Sarah Palin, etc.) und Mastercard hat meistens gewonnen. In einigen Situationen wurden aber auch Ziele aus "common sense" ausgewählt. Sicherlich haben dabei einige Leute mehr Einfluss als andere, aber prinzipiell wird jeder Anonymous erhört. Und vernünftige, gute Ideen sind am ehesten die, die aufgegriffen werden. Das trifft auf DDoS-Ziele ebenso zu, wie auf andere Operationen.

Die Frage bezüglich der Presseinformationen und wie wir feststellen, ob die "Basis" einverstanden ist: Es gibt keine Basis in diesem Sinne. Eines unserer Mottos ist: "Anyone can lead where everyone will follow" – wenn also irgendein Anonymous oder eine Gruppe innnerhalb Anonymous eine Operation durchführen will, dann wird dies in den entsprechenden Kommunikations-Kanälen "gespammt". Daraufhin finden sich automatisch viele Anonymous, die daran teilnehmen, aber auch andere, die es nicht tun -- z. B. weil sie mit der Operation nicht einverstanden sind. Das ist aber normal und stellt überhaupt kein Problem dar.

Und so ist auch unsere "Pressestelle" entstanden. Es gibt im IRC beispielsweise mehrere Channels, die sich nur mit diesem Thema beschäftigen. Das sind Leute, die eben dieser Aspekt interessiert – und natürlich entpricht dies auch ihren Fähigkeiten und Interessen, weshalb sie von anderen Anonymous in dieser Funktion akzeptiert werden. Mittlerweile werden Presseinformationen über www.anonnews.org "offiziell" veröffentlicht. Aber wie gesagt: Auch diese dort veröffentlichten Informationen sprechen niemals im Namen aller Anonymous', denn dies ist eben prinzipbedingt nicht möglich.

Für die Abstimmung der DDoS-Ziele wurde unseres Wissens Google Text & Tabellen verwendet. Irgendwann war dieses "Abstimmungs-Spreadsheet" nicht mehr zu erreichen. Hat Google das Dokument gelöscht? Wenn ja, wäre das ja ein klares Argument gegen Cloud-Computing.

Wir hatten mehrere Verfahren für das Voting der Ziele, Google Spreadsheet war nur eines davon. Nach unserer Kenntnis wurde es tatsächlich von Google entfernt, aber das hat uns nicht wirklich interessiert. Die Antwort auf die Frage, ob solche Löschungen nun ein Argument gegen Cloud-Computing darstellen, möchten wir lieber Ihren Lesern überlassen.

Etliche Anonymous-IRC-Server waren während der DDoS-Attacken nicht zu erreichen, anonops.net ist immer noch down. Wo liegen die Ursachen dafür? (DDoS-Attacken von Anonymous-Gegnern, Löschen der DNS-Einträge?)

Es ist richtig, dass die IRC-Server immer wieder unter DDoS-Attacken standen. Das IRC war aber immer über mehrere Server erreichbar. Die Domain anonops.net, über die das IRC angebunden war, wurde zuerst durch DDoS-Angriffe lahmgelegt und anschließend vom Registrar abgeschaltet. Es war aber stets möglich, die Server über IP-Adressen zu erreichen, die jeder halbwegs erfahrene Anonymous auch schnell – z.B. über Twitter – in Erfahrung bringen konnte.

Mittlerweile ist das Problem gelöst und AnonIRC ist erreichbar unter irc.anonops-irc.org.

Auch Twitter und Facebook haben zahlreiche Anonymous-Accounts gesperrt. Haben sich die Unternehmen mit Ihnen in Verbindung gesetzt und die Sperrungen erklärt?

Es ist uns von keinem Twitter- oder Facebook-Nutzer, dessen Account gesperrt wurde, bekannt, dass es eine Stellungnahme von Twitter/Facebook dazu gegeben hätte. Uns selbst wurde der Twitter-Account @AnonymousOps gesperrt (ohne das ein uns bewusster Verstoß gegen die ToS stattgefunden hätte) und wir warten seit fast einer Woche auf eine Antwort auf unsere Anfrage an Twitter.

Es ist uns aber im Grunde auch egal: Wir können mehr Twitter-Konten erstellen, als Twitter sperren kann. Möglicherweise hat Twitter das bereits eingesehen, denn es sind uns keine weiteren Sperrungen bekannt (außer solche, bei denen eindeutig gegen die ToS verstoßen wurde).

Wie geht es weiter mit Anonymous?

Das kann – prinzipbedingt – niemand sagen. Es werden aber mit Sicherheit weitere Projekte entstehen, denn eines ist klar: Anonymous ist aufgewacht, um die Freiheit und Rechte aller Menschen zu schützen. Anonymous wird alle zur Verfügung stehenden Mittel anwenden, um diesen Kampf zu führen. Bis zum Ende, wie auch immer dieses aussehen mag. (jkj)