Verriss des Monats: Unvergesslich

Manche Produkte vergrößern die Probleme, die sie eigentlich beseitigen wollen - etwa die Datenfülle eines ganzen Lebens zu kompilieren.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 9 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Peter Glaser

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: Den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

Manche Produkte vergrößern die Probleme, die sie eigentlich beseitigen wollen – etwa die Datenfülle eines ganzen Lebens zu kompilieren.

Selten ist eine Idee so jämmerlich in der Realität gelandet wie das Lifelogging. Das ganze Leben einer Person aufzeichnen zu können, hört sich großartig an – alles, was sie sieht, hört, spricht, welche Medien und sozialen Netze sie frequentiert, was sie digital (und da geht es schon los) liest, schreibt, versendet. Der analoge Kulturumsatz an Büchern, Zeitschriften und Zetteln fällt schon mal weg. Zu aufwendig ist das Einscannen der Papiere.

Der Microsoft-Forscher Gordon Bell ist ein Pionier dieser Art von Aufzeichnung. Von 2001 bis 2007 hat er seine gesamten digitalen Dokumente, Fotos, Videos, Telefonate, die Musik, die er gehört und die Filme, die er gesehen hat, digital erfasst. Und so einschließlich seines per GPS protokollierten Aufenthaltsorts 150 Gigabyte an Daten auf seine Festplatte gespeichert – unter anderem mit der ebenfalls von Microsoft entwickelten SenseCam, die er um seinen Hals trug.

Diese Technologie hat Microsoft nun lizensiert, und die Firma Vicon hat daraus die Vicon Revue ("Memories for Life") gemacht, eine etwa 580 Euro teure Box zum Umhängen, die maximal acht Weitwinkelaufnahmen pro Minute schießt (in karger VGA-Auflösung), automatisch angeregt durch wechselnde Lichtverhältnisse oder Temperaturänderungen. Wenn man zum Beispiel in ein Restaurant geht, reagiert das Gerät auf das gedimmte Licht oder die Klimaanlage. Aber auch wenn das Ding einen Infrarot-Bewegungsmelder, einen Mehrachsen-Beschleunigungsmesser und einen Kompass enthält, ist der Preis einfach nicht gerechtfertigt, wenn man bedenkt, dass heute jedes Smartphone über derlei Komponenten verfügt.

Für das Projekt von Gordon Bell, das "Cyber All" hieß und später in "MyLifeBits" umbenannt wurde, zeichnete ein Keylogger jeden Tastendruck, jede Mausbewegung, jedes verschobene Fenster auf seinem Rechner auf. Die Speicheranforderungen für die massive Selbstüberwachung sind erstaunlich moderat. Von den 150 Gigabyte nehmen Videodaten etwa 60 GB ein, 25 GB die Fotos, 18 GB Musik und Audiodaten. Den Rest teilen sich etwa 100.000 Webseiten, ebenso viele E-Mails, 15.000 Textdateien, 2.000 Powerpoint-Files und ein bisschen Vermischtes. Wenn das ein ganzes Leben sein soll, dann ist das Leben ein trauriger Haufen Zeug.

Auch sein Buch "Total Recall", das Bell 2009 gemeinsam mit seinem Kollegen Jim Gemmell geschrieben hat, wurde umbenannt: in der Taschenbuchausgabe heißt es nun "Your Life Uploaded – The digital way to better memory, health, and productivity". Einen solchen Fundus an digitalen Spuren anzapfen zu können, ist für Militärs und Marktforscher eine wundervolle Vorstellung, für andere ein Alptraum. Angesichts solcher Entwicklungen, die letztlich in einen Terabyte-Totalitarismus führen würden, wird wieder deutlich, dass das Vergessen kein Mangel ist, sondern etwas, das unser Menschsein wesentlich mit bestimmt. Es entlastet uns von unnötigem Erinnerungsballast, erleichtert Veränderung und Entwicklung – und die Fähigkeit zu vergessen macht aus uns soziale Wesen.

Übrigens gab es in dem Zusammenhang auch im Pentagon bereits eine Umbenennung: Ein ursprünglich "LifeLog" genanntes Projekt wurde nach einer kontroversen öffentlichen Debatte – scheinbar – wieder aufgegeben. LifeLog sollte jeden Lebensaspekt einbeziehen, von E-Mails bis zum Essenseinkauf. Große Teile des Vorhabens werden nun aber unter einer anderen Bezeichnung weitergeführt. Das US-Verteidigungsministerium ist fasziniert von Sensoren in der Kleidung von Soldaten. Die Idee nennt sich deshalb jetzt "Advanced Soldier Sensor Information System and Technology" (ASSIST) und soll alles aufzeichnen, was ein kämpfender Soldat sieht, sagt und tut, damit die Kommandeure in ihren Rechnercontainern sich ein besseres Bild der Lage machen können.

Aber hier ebenso wie bei dem Vicon-Kästchen wird ein Problem eher erzeugt als gelöst: Die Militärs hätten gern eine Software, die aus den Log-Daten automatische Rapports generiert oder Details entdeckt, die der Soldat in der Einsatzhektik übersehen hat. Doch die Truppe dürfte ebenso in Daten ertrinken, wie es die Vicon Revue-Besitzer in der Banalität ihrer digitalen Tages-Daumenkinos tun.

Das menschliche Gehirn hat nicht umsonst Filtermöglichkeiten entwickelt, mit denen sich die auf einen Menschen durchschnittlich einströmenden 11 Millionen Bits pro Sekunde um den Faktor eine Million reduzieren lassen. Nur so lassen sich überlebenswichtige Entscheidungen schnell genug treffen, die gleichzeitig auf einer gesunden Informationsbasis aufbauen.

An die fünfzig Bits pro Sekunde kann ein Mensch maximal bewusst aufnehmen, haben Forscher errechnet. Von einem 580 Euro teuren Gerät kann man sich jetzt einerseits permanent vorführen lassen, wie unfähig man ist und andererseits, aus was für einer langweiligen Ansammlung von Daten das Leben besteht. Wenn Menschen so funktionieren würden wie die "Vicon Revue", wäre das Trinkwasser mutmaßlich längst mit Antidepressiva gesättigt. ()