"Ungluablich": 10 Jahre Newsticker bei heise online

Manchmal scheint es, als habe sich nur wenig geändert in 10 Jahren Nachrichten aus IT, Wissenschaft und der Welt jenseits des Tellerrands. Aber wie die Schreibfehler verändern sich die Nachrichten, das Netz selbst sowie das gesellschaftliche Umfeld.

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Von
  • Hal Faber

Ungluablich, aber wahr: Heute vor 10 Jahren startete der Nachrichtenticker von heise online mit dieser kleinen unscheinbaren Nachricht. Mit Microsoft und Gravenreuth im Titel zeigte der Newsticker von Beginn an, woraus Nachrichten für Heise-Leser bestehen. Auch die erste Wochenübersicht ließ bereits einige der Themen anklingen, für die der Newsticker bekannt wurde: Geschäftsberichte ohne Ende, Microsoft-Aktionen aller Art, Abmahnungen, das Abkassieren mit Patenten, das zwielichtige Internet, das aufklärende Internet sowie – noch ganz, ganz schüchtern – die Frage, was nach dem Computer kommt und wohin sich die Gesellschaft mit dieser Technik bewegt. Und natürlich die Firma Apple, die vor 10 Jahren ums Überleben kämpfte.

Dabei war die Entscheidung, Nachrichten online zu stellen, keine Frage des Überlebens. Die Branche boomte. Zwei Jahre früher ging Heise auf der CeBIT 1994 online, mit einer eher unspektakulären Demonstration, was es mit der viel diskutierten Web-Präsenz auf sich hat. Zur CeBIT 1996 verkaufte dann der damalige Inhaber von heise.de die Domain an den Verlag. Der Weg war frei, die sich in Umrissen abzeichnende "New Economy" mit technischen Nachrichten zu versorgen, die immer schneller zirkulierten. Auf die Geschwindigkeit wie die Fülle an Themen musste auch die c't reagieren, die 1997 auf eine zweiwöchentliche Erscheinungsweise umstellte. Von dieser Umstellung profitierte der Nachrichtenticker, weil aus dem Redaktionsbereich "aktuelle News" der Newsroom wurde, der seitdem den Newsticker betreut und täglich mit tätiger Mitarbeit aller Kollegen aus den Redaktionen der Print-Magazine und von Telepolis aufhübscht.

Nun ist ein Nachrichtenticker der Definition nach ein Dienst, in dem wichtige aktuelle Nachrichten kurz und schnell abgearbeitet, in dem die Geschäftszahlen des Marktes abgehandelt werden. Doch nach den ersten paar hundert Tickermeldungen und den ständigen Rückfragen der Leser per Mail zeigte sich: Die reinen Kurzmeldungen reichen nicht aus, der Blick auf die "reine IT" kastriert die Nachricht, die doch aufklären soll. Darum wurden aktive Hyperlinks auf weiter reichende Informationen in feiner Ironie nach dieser Meldung eingeführt, die selbst noch zu einem internen Angebot verzweigte. Im Jahre 1998 begannen auch die freien Journalisten und Reporter rund um den Heise-Verlag, den Ticker zu beliefern. Bezeichnenderweise kann sich von diesen niemand mehr an seine erste Meldung erinnern.

Dafür kann sich ausnahmslos jeder Freie wie die fest Angestellten gut daran erinnern, wann er oder sie von den Heise-Lesern geteert und gefedert wurden. Meistens geschah dies in einer Betriebssystem-Debatte: Bezogen auf die beleidigten Leberwürste der Apple-, Linux- und OS/2-Fraktionen ist der Heise-Verlag wohl der größte virtuelle Wurstproduzent Deutschlands. Die "dümmsten anzunehmenden Journalisten" wurden viele Jahre lang im Usenet, im Fido-kompatiblen Gernet und in der c't-Mailbox ausgerufen, jedoch nicht im World Wide Web. Das sollte sich im Jahre 1999 ändern: Im Umfeld dieser Meldung wurde die Kommentarfunktion eingeschaltet. In der Folgezeit entwickelte sich das Biotop der Heiseforen prächtig und bietet derweil ein beliebtes ebenso wie höchst umstrittenes Feld aller möglichen Diskussionen und Auseinandersetzungen mit nicht immer friedlichem Ausgang. Vor wenigen Tagen konnten die Heiseforen dann ihr eigenes Jubiläum feiern.

Die Mailbox und die Gernet-Präsenz wurden Ende 1999 abgeschaltet. Etwas Ähnliches befürchtete man zum Jahreswechsel, der als Y2K seit Monaten die Gemüter beunruhigte: dass sich Rechner in aller Welt abschalten oder Unsinn produzieren. In der Neujahrsnacht 2000 standen darum der komplette Newsroom sowie einige Kollegen von c't bereit, jeden der beschworenen Y2K-Fehler sofort zu berichten. Doch die Katastrophe blieb einfach aus; das alte Millennium wurde später auf auf andere Art verabschiedet. Dafür traf ein anderes Stück Materie den Ventilator: Am 4. Mai 2000 informierte heise online erstmals über "I love you", nur um in den ersten Tagen über 20 Meldungen hinterher zu schieben, von denen die meisten in den ewigen "Top 100" landeten, den Meldungen, die die Schwelle von (derzeit) mehr als 700.000 Zugriffe überschreiten. Nebenbei gab die Redaktion ein Fernseh- und Radiointerview nach dem anderen: Der Newsticker etablierte sich als allgemein bekanntes Informationsportal.

Die Wandlung vom reinen Technikticker zum Informations- und Unterhaltungskanal für zeitgeistige IT-Leser war kein Zufall, sondern themenbedingt. Im Jahr der vielen Nullen schlug die Debatte über Softwarepatente erstmals hohe Wellen, wurde das Thema "Digital Rights Management" von der durch Napster geschockten und um Ideen verlegene Unterhaltungsindustrie ausgerollt. In Berlin forderte der damalige Innensenator Werthebach die Ausweitung der Telefonüberwachung zu dem, was heute Vorratsdatenspeicherung heißt. Alles Themen, die nicht mit einer einfachen Meldung abgeklatscht werden konnten, sondern einer fortlaufenden Debatte bedurften. Deutschland, das Land der Dichter, Denker und des Datenschutzes, begann vor dem September 2001 damit, sich mit Überwachungstechnik einzurüsten. Im real existierenden Bielefeld verlieh der FoeBuD erstmals die Big Brother Awards, in Cyberfeld sammelte sich, über die Foren von heise online vermittelt, die Initiative Stop 1984.

Außerdem ging die ultrahocherhitzte "New Economy" ihrem Ende entgegen, mit durchaus unerfreulichen Nebenwirkungen. Als diese Nachricht erschien, war es allen in der Redaktion klar, dass der Boom zu Ende ist und die Nachrichtenhatz um den "First Mover Advantage" eingestellt werden kann. Die Entdeckung der Langsamkeit schaltete ein gestresster Nachrichtenredakteur an einem Aprilsonntag im Jahre 2001 frei, der danach mit einem Herzinfarkt zusammenbrach. An einem Samstag erhielt der Chronist um 5 Uhr in der Früh einen Anruf, dass Douglas Adams an einem Herzinfarkt gestorben war. Mit großer Trauer wurde ein kleiner Nachruf in den Newsticker gestellt – der Umfang der Kondolenzen im Forum überraschte dann doch: Polly Adams bekam eine CD mit allen diesen Abschiedsgrüßen als Dokumentation, wie sehr ihr Vater in Deutschland geschätzt war. Über den Tellerrand der IT hinaus wurden Ereignisse wie der 11. September 2001 oder der Beginn des Irak-Krieges gemeldet, auch wenn dies manche Besucher verärgerte. Doch die Konsequenz, mit der der Terror bei jedem Einschnitt in bürgerliche Rechte als Beweis angeführt wird, die Penetranz, mit der Biometrie, RFID-Technik und weitere IT-Entwicklungen für die "Terrorabwehr" instrumentalisiert werden, zeigt, dass weiter berichtet werden muss.

Mitunter zeitigt die Berichterstattung "unintentionale Konsequenzen", wie Kommunikationspionier Vint Cerf die Ausbreitung des Internet charakterisierte. Nehmen wir nur die kleine Nachricht über einen Beschwerdebrief, die zu einer der ersten "geheisten" Sites wegen allzu vieler Zugriffe führte. Und wer hätte gedacht, dass sich aus dieser unscheinbaren Meldung eine epische Saga mit griechischen Beweisen, geheimnisvollen Koffern und entzückenden Gedichten entwickelt, die längst noch nicht zu Ende ist. Ein anderes Beispiel bietet die überraschende Flaggenparade durch die Leser nach dieser Nachricht über die Softwarepatentrichtlinie. Mitunter gibt es aber auch Nachrichten voller langdauernder und ernsthafter Nebenwirkungen. Nehmen wir nur die Auseinandersetzung mit der Musikindustrie, die hier begann und ebenfalls noch nicht beendet ist. Auch die Frage der Forenhaftung gehört zu den Dingen, bei denen heise online Rechtssicherheit erreichen will.

10 Jahre nach seinem Start ist der Newsticker ein Pol im Internet, der gerne von den Bloggern angepeilt wird. Die Gegenwart dieser kommentierenden Zeitgenossen und das Auftauchen so genannter Online-Journalisten verändert wiederum die Gangart des Tickers. Blogger, das sind Personen, die 5 Minuten googlen und dann ihre Wahrheit verkünden. Online-Journalisten telefonieren 5 Minuten und glauben ebenfalls, den Scoop gefunden zu haben. Damit liegen beide falsch. In guter deutscher Tradition muss ein Professor her, den Strukturwandel der Öffentlichkeit zu beschreiben, für die der Heiseticker Nachrichten produziert. In seiner Dankesrede für den Bruno-Kreisky-Preis sagt Jürgen Habermas: "Die Nutzung des Internet hat die Kommunikationszusammenhänge zugleich erweitert und fragmentiert. Deshalb übt das Internet zwar eine subversive Wirkung auf autoritäre Öffentlichkeitsregime aus. Aber die horizontale und entformalisierte Vernetzung der Kommunikationen schwächt zugleich die Errungenschaften traditioneller Öffentlichkeiten. Diese bündeln nämlich innerhalb politischer Gemeinschaften die Aufmerksamkeit eines anonymen und zerstreuten Publikums für ausgewählte Mitteilungen, sodass sich die Bürger zur gleichen Zeit mit denselben kritisch gefilterten Themen und Beiträgen befassen können. Der begrüßenswerte Zuwachs an Egalitarismus, den uns das Internet beschert, wird mit der Dezentrierung der Zugänge zu unredigierten Beiträgen bezahlt. In diesem Medium verlieren die Beiträge von Intellektuellen die Kraft, einen Fokus zu bilden." Die Trauer der A-Intellektuellen erinnert an das Getue der A-Blogger, doch worauf es ankommt, das wird auch deutlich. Auch im Internet muss es eine traditionelle Plattform geben, die etwa Nachrichten über die Hintergründe veröffentlicht, wenn das Geld zu Gast bei Freunden ist.

Was fehlt, ist der obligate Ausblick in die Zukunft. Kann es diesen Ausblick geben, nach 10 Jahren, die begleitet wurden von Kritik an Forentrollerei, die die Redaktion nicht in den Griff bekomme, und der seit den ersten Tagen des Gernet zu hörenden Klage über das stetig sinkende Niveau? Das ach so schnelle Internet, das dann doch oftmals nur das hektische und aufgeregte Internet ist, dieses Netz, das auch Nachrichtenmedium sowie Gerüchteküche und Marktplatz für den jüngsten Klatsch ist, stellt einen Ort dar, an dem 10 Jahre wie eine Ewigkeit erscheinen. An diesem Ort gibt es einen ganzen Haufen möglicher Zukünfte. Nehmen wir nur die Zukunft des Newstickers im Jahre 2056 nach den Vorgaben, die der gerade veröffentlichte britische Komissionsbericht über Intelligent Infrastructure Futures als worst case beschreibt – wenn die Welt nach dem durch eine Energiekrise hervorgerufenen Zusammenbruch von einem "Department of Intelligent Infrastructure" beherrscht wird, die Gesellschaft in kleine Stämme atomisiert ist und für Transporte nur Pferd und Fahrrad zur Verfügung stehen. Dabei ist die Technik nicht verschwunden, nur andere Türen haben sich geöffnet: "Electricity is available from 'microgrids' – small community networks that integrate wind and solar power. And there's still an Internet: It's based on wireless mesh networks whose servers are maintained by a new breed of scavenger-nerds who scour the old world's electronic detritus for re-usable circuit boards and memory." Und die Nerds brauchen ihre Nachrichten.

In diesem Sinne sei uns noch etwas Zeit vergönnt, bis eine der Zukünfte Realität wird – Zeit möglicherweise für Überlegungen zu Veränderungen dieser Zukunft, Überlegungen, die hoffentlich auch mit den Berichten und Hintergründen, die der Heiseticker liefert, ermöglicht werden. "Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau mahlt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." (Hal Faber) / (jk)