Metropole Sonderstunden

Ein paar Anmerkungen zu zwei alten Freunden aller digital Tätigen: der Nacht und der Intuition.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Ein paar Anmerkungen zu zwei alten Freunden aller digital Tätigen: der Nacht und der Intuition.

Berlin ist zu groß, um eine Stadt zu sein, Berlin ist eine Fülle von Berlins. Nachts kommt eine Art alchemistischer Zeitreise hinzu. Die Stadt ist auf der Suche nach sich selbst und in den Kolben aus Clubs, Bars und Restaurants kochen die Epochen, alte Zeiten werden remixt. Nachts werden die Menschen auf mysteriöse Art transparenter. Etwas Animalisches ist an ihnen zu spüren, als trüge nun auch das in Kultur gehüllte Gefühl ein Abendkleid. Etwas, das so präsent und sicher ist wie ein Instinkt, das pfeilschnell aus einer vergnügten Zerstreuung oder einer Müdigkeit hervorschießen kann, ein plötzliches Wissen, eine Laune der Nacht. Eine Intuition fällt einem zu und man scheint aber doch auch daran gearbeitet zu haben – in Schichten von Geist und Gefühl, die so tief liegen, dass sie unter Tagesumständen nicht zugänglich sind.

Unterwegs nach Mitte mit zwei Freunden aus Japan, sie sind das erste Mal hier. Morgens beim Frühstück fotografieren sie ihre Brötchen. Kazu ist Programmierer, in Tokio hat er ein kleines Internet-Unternehmen. Wenig später verschwindet er in seinem Hotelzimmer und verlässt es erst wieder zu seiner Abreise. Er ist gekommen, um Europa zu sehen, aber in Tokio gab es ein Erdbeben, das die Webserver seiner Kunden zum Absturz gebracht hat. Von dem Hotelzimmer in Berlin aus bringt er alles wieder in Ordnung. Mieko ist eine zierliche Frau mit Dachssträhnen, in Tokio ist sie eine Berühmtheit. Ihre Spezialität ist die Art von Musik, die aus der Berliner Nacht kommt. Etwas, das sie bisher nur in ihrer Vorstellung kannte, breitet sich nun vor ihr in die Dunkelheit aus. Die Strenge der Musik, das Maschinenhafte, liefert einen festen Rahmen gegen das Chaos der Nacht, den Rausch, dämmrige Konturen.

Nachtleben hat in Berlin Tradition. Es ist der Initiative von Heinz Zellermayer zu verdanken, dass zuzeiten des Kalten Kriegs ein Ostberliner, der morgens um halb fünf auf der Flucht die Spree durchschwamm, nicht nass auf der Straße stehen musste, sondern immer eine offene Kneipe fand, in der er herzlich empfangen wurde. Nach Kriegsende stand Zellermayer der Gaststätteninnung für die West-Sektoren Berlins vor und vollbrachte ein Verhandlungswunder: Am 20. Juni 1949 hoben die Alliierten die Sperrstunde in Berlin auf. "Die Leute wollten doch ausgehen", sagt Zellermayer, "raus aus der Misere". Berlin wurde zur einzigen Weltstadt ohne Sperrstunde.

Mieko staunt, wir ziehen von einem Club, in dem in Glasvitrinen halbschattig außerirdische Lebewesen schwimmen, in den nächsten, in dem es klar und teuer ist. Alles stemmt sich fröhlich gegen die Lautstärke, laute Musik fordert lautes Vergnügen. Die Leute fließen ineinander und die Nacht hört nicht auf. Während der Programmierer Intuition in der Ruhe der Nacht findet – ein Leuchtturmwärter über einem Meer aus Schlafenden –, sucht Mieko jene größtmögliche Form gemeinsamer Ruhelosigkeit, die Nachtleben heißt. Was in der Nacht geschieht und wie es geschieht, ähnelt den Regionen in unserem Inneren, in denen jene blitzartige Einsicht auf ihre Beute lauert, die man Intuition nennt. Nachts wagt das scheue Tier sich viel eher hervor als im Hellen. Lautstärke erfüllt die Funktion eines Türstehers: kein Zutritt für das Tagesbewusstsein. Nun sind andere Lösungen gefragt – Auflösungen. Konturen verwischen, Altes löst sich, Neues öffnet sich. Mieko staunt, und ich staune, dass jemand, der aus Tokio kommt, in Berlin ins Staunen gerät. Weiter geht es in einen Club, der durch eine Raumschiffschleuse zu betreten ist. Man tritt aus dem Raumschiff in einen Garten am Spreeufer, im Sommer spielt man hier Go. Musik marschiert, Mieko lacht. (bsc)