80 Sekunden bis zur Erschütterung

Japan erlebt die schwerste Naturkatastrophe seiner Geschichte. Dank des modernsten Erdbeben-Frühwarnsystems der Welt gewannen viele Menschen, vor allem im Großraum Tokio, ein wenig Zeit, um Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.

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Von
  • David Talbot
  • Niels Boeing

Japan erlebt die schwerste Naturkatastrophe seiner Geschichte. Dank des modernsten Erdbeben-Frühwarnsystems der Welt gewannen viele Menschen, vor allem im Großraum Tokio, ein wenig Zeit, um Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.

Das Erdbeben vor der Ostküste von Japan ist ohne Zweifel die schwerste Naturkatastrophe, die das Land je heimgesucht hat. Doch während das Beben in Haiti vor gut einem Jahr über 200.000 Menschen das Leben kostete, ist die Zahl der Todesopfer in Japan vergleichweise gering – und das, obwohl die Erschütterung mit einer Stärke von 9,0 auf Moment-Magnituden-Skala eines der stärksten Beben aller Zeiten war. Dass es – trotz des sich derzeit abzeichnenden GAUs im Kernkraftwerk Fukushima 1 – nicht noch schlimmer kam, ist auch Japans Erdbeben-Frühwarnsystem zu verdanken.

In der 35-Millionen-Megalopole des Großraums Tokio etwa verschaffte es den Bewohnern 80 Sekunden Zeit, um sich auf die anrollenden Bodenwellen vorzubereiten. Über 1000 Seismographen sind über das Inselreich verteilt und sorgen dafür, dass Hochgeschwindigkeitszüge bremsen, Aufzüge automatisch an der nächsten Etage stoppen und Kraftwerke herunterfahren. „Japan ist wohl das am besten auf Erdbeben vorbereitete Land der Welt“, urteilt Stephane Rondenay, Geophysiker am MIT.

Die Seismographen registrieren die zuerst von einem Bebenherd eintreffenden P-Wellen. Diese primären Wellen haben eine kurze Wellenlänge und richten vergleichsweise wenig Schaden an. Während die langwelligen und gefährlichen S-Wellen anrollen, berechnet das Frühwarnsystem bereits die Lage des Epizentrums. "Alle, die 30 Kilometer vom Epizentrum entfernt sind, können noch eine Warnmitteilung bekommen", sagt Hiroo Kanamori, einer der renommiertesten Seismologen der Welt am California Institute of Technology.

Das Beben ereignete sich um 14:46 Ortszeit östlich der Hafenstadt Sendai im Pazifik. Um die ersten Signale über Ort und Stärke des Bebens aufzunehmen und zu verarbeiten, vergingen zehn Sekunden. Die mit vier Kilometern pro Sekunde sich fortpflanzenden S-Wellen hätten für die 373 Kilometer vom Bebenherd bis Tokio hingegen rund 90 Sekunden gebraucht.

So blieben den Tokiotern immerhin wertvolle 80 Sekunden, um die jährlich trainierten Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen: Menschen in Häusern flüchten sich unter Türrahmen oder schwere Tische, Operationen in Krankenhäusern werden gestoppt, Aufzüge verlassen. Autos haben genug Zeit, um – wie es die gängigen Sicherheitsempfehlungen vorsehen – an den Straßenrand zu fahren und dort stehen zu bleiben.

„Die Erdbeben-Frühwarnung hat gute Fortschritte gemacht“, sagt auch Kanamori. Insgesamt zwei flächendeckende Frühwarnsysteme sind in Japan installliert. Das eine, UrEDAS für „Urgent Earthquake Detection and Alarm System“, ist von der Eisenbahngesellschaft Japan Railways seit 1982 aufgebaut worden, um Bodenerschütterungen entlang oder in der Nähe der Bahnlinien des Hochgeschwindigkeitszugs Shinkansen zu erfassen. Das andere System wird vom japanischen Wetterdienst JMA betrieben und ist eine Reaktion auf das Beben in Kobe 1995 gewesen, das die Wissenschaft dort nicht erwartet hatte.

Ähnliche, wenn auch regional begrenzte Systeme gibt es bereits in Mexiko, Taiwan, Rumänien und der Türkei. Italien und die Schweiz sowie die US-Bundesstaaten Hawaii und Kalifornien arbeiten derzeit am Aufbau solcher Systeme. "In den USA gibt es nur wenig öffentliche Gelder für den Aufbau", sagt Kanamori, "ein Problem ist, dass die rechtlichen Folgen eines Alarms nicht geklärt sind." Eine dennoch unerklärliche Zurückhaltung, bedenkt man, dass die San-Andreas- und die Hayward-Verwerfung den Wirtschaftsraum der San Francisco Bay Area bedrohen: Die Wahrscheinlichkeit für ein Erdbeben mindestens der Stärke 7 beträgt dort bis 2030 67 Prozent.

Schwieriger ist die Frühwarnung bei einem Tsunami. Die japanische Regierung gab die erste Warnung drei Minuten nach Beginn des Bebens heraus. Die US-Wetter- und Meeresbehörde NOAA konnte auf der anderen Seite des Pazifiks anhand der Daten des Pacific Tsunami Warning Centers neun Minuten später Alarm auslösen.

Die längeren Antwortzeiten liegen daran, dass die Rechenanforderungen an die Computer des Tsunami-Frühwarnsystems wesentlich größer sind. Das NOAA-System müsse ermitteln, ob sich ein Beben in einem Ozeanbecken ereignet hat, welche Deformation des Meeresbodens am wahrscheinlichsten ist und welche Bodenbewegung die Erschütterung auslöst, sagt Rondenay. Zu viele falsche Alarme würden das Vertrauen in das System langfristig untergraben. Vorschnelle Warnungen wiederum würden wenig aussagekräftige Informationen über die Richtung, aus der das Unglück heranrollt, enthalten. „Sie müssen hier viel mehr Parameter berücksichtigen“, so Rondenay.

Glück im Unglück: Auch wenn Tsunamiwellen sich rasant ausbreiten, sind sie nicht so schnell wie seismische Wellen an der Erdoberfläche. Anfänglich ist die Bewegung über eine tausende Meter hohe Wassersäule verteilt, so dass die Wellen an der Oberfläche noch niedrig sind. Erst in flacheren Gewässern schaukeln sie sich zu den berüchtigten Wasserwänden auf. Die Bewohner der Region rund um Sendai hatten auf diese Weise immerhin 15 Minuten Vorwarnzeit, während es in der Region Tokio schon 40 Minuten waren.

Japan hat auch von einer an Erdbeben angepassten Architektur profitiert, die in der Folge des Bebens von Kobe noch weiter verbessert wurde. „Ich habe den Eindruck, dass viele Gebäude das Beben ziemlich gut weggesteckt haben“, sagt Eduardo Kausel, Seismik-Ingenieur am MIT. Immer mehr Gebäude würden mit Schock-Absorbern ausgestattet, die die Energie der Bodenbewegung in Wärmeenergie umsetzten.

„Die Japaner haben in Kobe eine bittere Lektion gelernt. Seitdem haben sie viele Schwachpunkte in Konstruktionen beseitigt“, sagt Kausel. „Aber dennoch werden wir nie verhindern können, dass es Schäden gibt.“ Das jetzige Erdbeben hält für das gebeutelte Land schon die nächste Lektion bereit: Der massive Einsatz von Kernenergie in 55 AKWs ist zumindest in einem bebengefährdeten Land ein Pulverfass, wie der GAU in Fukushima I zeigt – obwohl die Reaktoren unmittelbar nach dem Beben vorschriftsmäßig herunterfuhren. (nbo)