Dreifaches Leid

Megabeben, Mega-Tsunami und ein möglicher Super-GAU. Martin Kölling berichtet direkt aus Tokio, wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht.

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Von
  • Martin Kölling

Megabeben, Mega-Tsunami und ein möglicher Super-GAU – wie ein Land mit der schlimmsten Katastrophenserie der Menschheitsgeschichte umgeht.

Ministerpräsident Naoto Kan hatte mehr als recht, als er am Sonntag das Megabeben in Japan als die schlimmste Katastrophe im Land seit dem 2. Weltkrieg bezeichnet hat. Erst hatte ein Beben der Stärke 9 auf der Richterskala den Nordosten Japans verwüstet. Kurze Zeit später radierte ein zehn Meter hoher Tsunami ganze Küstenstädte aus. Und zu allem Überfluss sind mindestens zwei große Atomkraftwerkskomplexe schwer beschädigt.

"Von den zehn Meilern der zwei Anlagen besteht bei sieben zumindest die Möglichkeit einer Kernschmelze", warnt Hideyasu Ban, Chef der Bürgergruppe "Citizen's Nuclear Information Center" und früher Mitglied der japanischen Atomplanungskommission. Die anderen drei nicht betroffenen Meiler waren gerade abgeschaltet, als das Beben und der vernichtende Tsunami zuschlugen.

Jede dieser drei Katastrophen allein hätte andere Länder vielleicht überfordert. Panik hätte vermutlich regiert, es hätte Plünderungen gegeben. Doch in Japan ist davon keine Spur. Auch Tokio ist ruhig, geradezu gespenstisch ruhig an diesem Sonntag. Nachdem die Menschen Lebensmittel und Batterien gehortet haben, setzen sie sich vor den Fernseher und zittern still mit. Die größte Angst flößen den Japanern dabei meinen Gesprächspartnern zufolge die überhitzten Atommeiler ein.

Das Erdbeben ist tragisch, so der Tenor. Aber erstens trainieren die Japaner von klein auf, wie man sich zu verhalten hat: Schutz suchen und – wenn man überlebt hat – zum Katastrophenzentrum der Ortschaft gehen. Routine schaltet die Panik aus. Zweitens wissen sie aus ihrer Erfahrung, dass die Erdbebenregionen bisher noch immer wieder aufgebaut wurden. Das Leben geht also weiter.

Aber die Atomgefahr ist nicht nur neu, sie ist auch unsichtbar und vor allem fast nie trainiert worden. Die letzten Übungen zur Bekämpfung atomarer Krisen fanden in den Hochzeiten des Kalten Kriegs statt. Es gibt keine Routine, ergo lähmt die Angst die Menschen stärker als die Aussicht auf erneute Megabeben.

Die Regierung und die führenden Medien wissen das anscheinend instinktiv. Statt über den größten anzunehmenden Unfall zu informieren, besteht die Regierung zunächst darauf, dass es keine Kernschmelze gegeben habe. "Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen", wiegelt ein Experte im Außenministerium ab. Man sei noch weit von einem Tschernobyl-Szenario entfernt.

Und die Medien halten sich auch mit der Ausmalung von Schreckensszenarien zurück – noch wenigstens. Doch inzwischen verändert sich der Ton. Ein hoher Beamter des für die Reaktorkontrolle zuständige Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie hat am Sonntag durch die Blume zugegeben, dass die Kerne wenigstens teilweise geschmolzen sind. "Ich denke nicht, dass die Brennstäbe unbeschadet davonkamen", hat Hidehiko Nishiyama gesagt.

Fast vermute ich hinter der Informationskontrolle System: das System Frosch. Wenn man einen Frosch ins kalte Wasser setzt und das Wasser langsam erhitzt, lässt er sich zu Tode kochen. Und übersetzt auf das Katastrophen-Triple heißt das: Weil die Gefahr im Bewusstsein der Menschen so neu ist und die Menschen sehr nervös sind, scheinen die Planer ihre Bürger lieber langsam mit schlechten Nachrichten füttern zu wollen, damit sie besser verdaut werden können.

Die Medien haben dann Zeit, die Menschen schrittweise zu Gegenmaßnahmen zu erziehen und so vielleicht auch bei einem GAU eine Massenpanik zu vermeiden. Die Medien sind hier im Erklären und Erziehen sehr geübt. Und dazu kann die Regierung hoffen, inzwischen die Meiler unter Kontrolle zu bringen.

Doch je länger die Krise dauert, desto lauter wird die Kritik an der Regierung. Denn die Japaner plagt spätestens seit dem überraschend starken Erdbeben unter dem größten Kraftwerkskomplex Kashiwazaki-Kashima in der Präfektur Niigata im Jahr 2007 ein flaues Gefühl. Damals antwortete Katsuhiko Ishibashi, Professor an der Universität Kobe, gegenüber Technology Review prophetisch auf die Frage, ob durch den damaligen Störfall Japans Regierung ihr ehrgeiziges Atomprogramm bremsen werde. "Nein, ich befürchte, die Lage in Japan wird sich erst ändern, wenn wir wirklich von einem größten anzunehmenden Unfall in einem Atomkraftwerk getroffen werden."

Nun könnte es so weit sein. Am Wochenende ist erstmals ein ehemaliger AKW-Ingenieur aufgestanden und hat vor einem zweiten Tschernobyl gewarnt. Masashi Goto heißt der Mann. Bis vor eineinhalb Jahren war er nach eigener Aussage Gruppenleiter für das Design von Reaktorsicherheitsbehältern beim Kraftwerksbauer Toshiba, der die Krisenreaktoren in Japans Erdbebengebiet gebaut hat.

Er halte die Gefahr eines Super-GAUs zwar für sehr gering. Aber sollten alle Kühlungsversuche versagen, könne eine Kernschmelze zu einer gewaltigen Dampfexplosion führen. Radioakativität könnte weit über den bisherigen 20-Kilometer-Sperrbezirk verteilt werden. "Meine große Sorge ist allerdings, dass eine Explosion in einem der Reaktoren auch die anderen Meiler berühren könnte", sagt Goto. Im schwersten betroffenen Kraftwerkskomplex Fukushima 1 stehen die drei aktiven Reaktoren dicht nebeneinander. Und bei allen gibt es Probleme mit der Kühlung des Kerns, weil die Energieversorgung durch die Notstromaggregate für das Kühlsystem teilweise unterbrochen war.

Andere Experten zweifeln zwar daran, dass eine Explosion Radioaktivität in diesem Fall so weit verteilen könnte. Doch für Goto unterstreichen die Notfallmaßnahmen der Regierung den Ernst der Lage. Der Meiler 1 der sechs Meiler des Kraftwerkskomplexes "Fukushima 1" konnte nur durch verzweifelte Notoperationen am Durchbrennen gehindert werden. Nach dem Beben sind beide Notstromgeneratoren ausgefallen, die Brennstäbe wurden, glaubt Goto, auf womöglich 1 Meter 70 Länge der Luft ausgesetzt und überhitzten. Der Kern sei bereits teilweise geschmolzen.

In ihrer Not hat die Regierung sich zu zwei Verzweiflungstaten entschieden. Erst wurde radioaktiver Dampf abgelassen, um den Druck zu senken, der bereits das 1,5-Fache der vom Design vorgesehenen Maximalbelastung überschritten hatte. Dann wurde mit Bor versetztes Meerwasser erst in den Reaktordruckbehälter und später auch in den Sicherheitsbehälter gepumpt. Das Bor soll Neutronen absorbieren und so die Kettenreaktion bremsen. Damit hatte die Regierung den ersten Meiler geopfert. Durch die Verwendung des salzhaltigen und unsauberen Meerwassers wird er nie wieder eingeschaltet werden können. Am Sonntag wurde dann auch noch Reaktor 3 auf gleiche Weise geopfert. Kabinettsamtschef Yukio Edano hatte erklärt, dass sich auch in diesem Meiler Brennstäbe "verformt" hätten.

Goto hält es sogar für möglich, dass alle bis auf die drei vor dem Beben abgeschalteten Reaktoren die gleiche Behandlung erfahren. Welche Folgen dies langfristig für Tokio haben könnte, erklärte der Stromerversorger Tepco bereits: kontrollierte Stromabschaltungen ("Rolling Blackouts") in einzelnen Regionen des Großraum Kanto mit seinen 36 Millionen Einwohnern. 10 Millionen Kilowatt soll der Bedarf die zur Verfügung stehende Leistung pro Tag übersteigen, erklärte Tepco gestern. Japan hält weiter den Atem an. Und ich hoffe, dass kein weiteres starkes Beben zusätzliches Unheil stiftet. (bsc)