Abschied vom 20. Jahrhundert
Seit dem GAU in Fukushima wird in Deutschland taktiert, bezichtigt, gewendet, demonstriert, beschönigt. Um die Sicherheit der Kernenergie geht es dabei nur an der Oberfäche.
- Niels Boeing
Neun Tage ist es nun her, dass die erste Wasserstoffexplosion in Fukushima I das politische und das politisch denkende Deutschland in Aufruhr versetzt hat. Seitdem wird taktiert, bezichtigt, gewendet, demonstriert, beschönigt. Eine Republik scheint zu hyperventilieren. Drei Gedanken dazu.
1. Die Atomkraft ist ein Kind des militärisch-industriellen Komplexes. Technisch nutzbar gemacht als Vernichtungswaffe im Zweiten Weltkrieg, zivil nutzbar gemacht als Energiequelle im Kalten Krieg der fünfziger Jahre – immer hat sie Hochsicherheitsstrukturen und militärische Disziplin erfordert. Anders wäre sie nicht zu bewältigen. Die Bilder der Löschtrupps von Fukushima I zeigen doch genau dies: arme Teufel, die an eine Front abkommandiert werden, an der sie auch draufgehen können. In dieser Hinsicht zumindest unterscheidet sich Fukushima nicht von Tschernobyl. Damals die Liquidatoren, heute die "Fukushima 50" (wie fertig die Einsatzkräfte sind, zeigt dieses Video einer Pressekonferenz mit drei Tokioter Feuerwehrleuten).
Der globalisierte Konzernkapitalismus ist manchmal vom ehemaligen Staatskapitalismus östlicher Prägung gar nicht so weit entfernt (die wahrscheinlichen Schlampereien des Betreibers Tepco beim Warten der Anlagen passen da gut ins Bild). Auch wenn die Atomkraft nur eine Brückentechnologie ist – ihre Entstehungsgeschichte kann sie nicht verleugnen. Ich finde es sinnlos, diese Technik immer nur auf der Ebene der technischen Konstruktion, der physikalischen Prinzipien zu diskutieren, wenn deren Beherrschung am Ende ein militärisches Mindset erfordert. So stelle ich mir Fortschritt für das 21. Jahrhundert nicht vor. Können wir das allen Ernstes nicht besser?
2. Der verblüffend schnelle Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg ruft nun die Realisten auf den Plan. "Turbo-Ausstieg würde 230 Milliarden Euro kosten", rechnet Spiegel online gleich nach und warnt davor, dass die Republik mit Windrädern und Solaranlagen "gepflastert" werden müsste. Natürlich ist die Energiewende nicht für lau zu haben. Wer hätte das je geglaubt? Aber erinnern wir uns immer wieder, bei jeder sich bietenden Gelegenheit: Das deutsche Rettungspaket zur Abwendung einer Finanzkrise, zu der die meisten Bundesbürger ungefähr so viel beigetragen hatten wie alle Japaner zusammen zum Fukushima-GAU, belief sich auf 470 Milliarden Euro. Während diese 470 Milliarden Euro aber nur zur Schadensbegrenzung gedacht waren, würde es sich bei den 230 Milliarden immerhin um Investitionen in die Zukunft handeln (bis 2020). Haben wir hierzulande keine Lust mehr zu investieren? Sind Innovationen plötzlich eine Zumutung? Ich kann es nicht glauben.
Und das Drohbild einer "verspargelten" Republik zieht auch nicht: Mit konsequentem Repowering – also dem Austausch älterer Windräder durch neue, leistungsstärkere – ließe sich die Windenergie an Land bis 2020 um 80 Prozent auf 45.000 Megawatt installierte Leistung anheben, schätzt der Bundesverband Windenergie. Dabei würden deutlich weniger Windkraftanlagen als heute in der Landschaft stehen. Selbst eine konservativere Studie von KPMG kommt für ein umfassendes Repowering (also ohne Höhenbeschränkung) auf 31.000 Megawatt. Die von Spiegel online präsentierte Rechnung geht allerdings nur von 26.000 Megawatt gesicherter Windenergie-Leistung im Jahr 2020 aus (für die praktischen Probleme des Repowering sei hier auf das Heft TR Special Energie verwiesen). Dies soll nur als ein Beispiel dienen, wie man das Potenzial bei Erneuerbaren auch unterschätzen kann.
3. Sicher gibt es hierzulande überzogene Reaktionen auf den GAU in Japan. Sich mit Geigerzähler und Iodtabletten auf einen Fallout aus Fernost vorzubereiten, kommt mir seltsam vor, da der Unfall hinsichtlich seines Ablaufs nicht mit Tschernobyl und dessen Wolke zu vergleichen ist. Aber den jetzt landauf, landab protestierenden Bürgern "Angststarre" und generelle "Fortschrittsskepsis" zu unterstellen, wie es etwa ZDF-Mann Wolfgang Herles auf stern.de tat, geht am rationalen Kern der Proteste vorbei. Es ist auch interessant, dass Herles die Ablehnung der Kernenergie gleich in einen Topf mit der Ablehnung der Gentechnik wirft. Diese Verknüpfung ist nicht einmal an den Haaren herbeigezogen: Beide sind Technologien, die vor allem von Konzerninteressen bestimmt werden. Viele, die jetzt wieder als "Wutbürger" verunglimpft werden, wollen sehr wohl neue Technologien – aber solche, die transparent sind, die sie selbst verantworten und gestalten können, die, um mit E. F. Schumacher zu sprechen, ein "menschliches Maß" haben. Wenn das rückwärtsgewandt sein soll, verrät es viel über die Kritiker, die offenbar eine Technik bevorzugen, die dieses "menschliche Maß" vermissen lässt.
Die Debatte über die Atomkraft ist nur an der Oberfläche eine über Sicherheit oder Unverzichtbarkeit einer Technologie. Im Grunde geht es darum, wer Technik kontrollieren und gestalten soll: ein elitäres Oligopol oder die Gesamtheit der Bürger?
(nbo)