Netz-Aktivisten loten privat und öffentlich neu aus

Unter dem Schlagwort "Post-Privacy" formiert sich im Netz eine Strömung, die die klassische Privatsphäre für ein Relikt der vordigitalen Ära hält. Ihr Gegenentwurf: Datenschutz sei nicht mehr möglich.

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Von
  • Peter Zschunke
  • dpa

Manchmal müsse man halt etwas krawallig auftreten, um die eigene Position rüberzubringen, sagt Julia Schramm lächelnd. Das ist ihr gelungen. Die junge Politikwissenschaftlerin hat mit einem Interview bei Spiegel Online eine Welle der Empörung ausgelöst, einen "Shitstorm". Die frech und pointiert formulierte These: Der klassische Datenschutz hat ausgedient. Sein Anliegen sei ebenso ein Relikt der vordigitalen Ära wie das Bemühen um den Schutz der Privatsphäre im Netz.

"In dem Moment, in dem ich mich zu Hause bei Facebook anmelde, liefere ich mich dem Kontrollverlust aus." Es gebe nur zwei Möglichkeiten, sagt die 25-Jährige im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa: "Entweder ich akzeptiere das oder ich lasse es und halte mich fern."

Die Berlinerin vertritt eine Strömung im Netz, die sich unter dem Schlagwort "Post-Privacy" formiert. Dies sei zum einen ein Befund, sagt Schramm: "Privatsphäre gibt es de facto nicht mehr im Internet." Zum anderen verbinde sich damit aber auch eine gesellschaftliche Vision: "Wir sind hoffnungslose Idealisten und wünschen uns eine diskriminierungsfreie Welt, in der es nicht notwendig ist, sich ins Privatleben zurückzuziehen."

Das "Wir" bezieht sich auf einen lockeren Zusammenschluss von Personen unter dem merkwürdigen Namen "Spackeria". Hintergrund ist eine Bemerkung von Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC), über "diese Post-Privacy-Spacken". Die so Angesprochenen haben das aufgegriffen und sich gesagt: "Gut, dann sind wir halt die Spacken."

Constanze Kurz erklärt, sie habe ihre Bemerkung nicht ganz ohne Ironie "auf Menschen bezogen, die sich einfach nicht mehr darum kümmern wollen, was wer über sie weiß und was speichert, die stattdessen frei und unbeschwert alles im Netz ausleben wollen, keine Hemmungen haben, und letztlich nichts verbergen". Dass dies irgendwann die Gesellschaft besser und freier mache, "halte ich für kurzsichtig und unreflektiert".

In einem demnächst erscheinenden Buch (Die Datenfresser, S. Fischer Verlag) schreiben Constanze Kurz und Frank Rieger auch über den "Post-Privacy-Irrtum" und werfen den Vertretern dieser Richtung vor, nach Belieben "die Transparenz im großen wie im kleinen" zu vermengen.

Julia Schramm, die sich politisch in der Piratenpartei engagiert, fragt hingegen: "Was ist überhaupt privat, was öffentlich? Das ist so was von relativ!" Es gehe nicht darum, "dass alle die Hosen herunterlassen". Aber Öffentlichkeit habe ein emanzipatorisches Potenzial, dass es im Netz zu erschließen gelte. Und wenn alle Daten allen gleichermaßen zur Verfügung stünden, sei damit auch keine Macht mehr verbunden.

Im Netz wie in Schramms eigener Partei stößt dies auf viel Kritik. Christopher Lauer vom Bundesvorstand der Piratenpartei weist darauf hin, dass die Geschäftsmodelle von Firmen wie Facebook und Google auf den privaten Daten ihrer Nutzer beruhten, und dass auch der Datenhunger des Staates ungestillt sei. "Das komplette Offenlegen der eigenen Person im Internet als tragfähiges Gesellschaftsmodell für jedermann zu propagieren, ist naiv", kritisiert Lauer.

In der Sorglosigkeit, mit der viele Facebook-Nutzer mit ihren eigenen Daten umgehen, sehen Post-Privacy-Vertreter wie Christian Heller hingegen eine Chance: Dies, so schreibt Heller in einem Blog-Beitrag, breche "die Isolation des Privaten auf und gibt denen ein soziales Echo, die vorher nie geglaubt hätten, Geistesverwandte zu finden". Und Michael Seemann, der mit seinen Thesen zum Kontroll-Verlust die Diskussion mit angestoßen hat, fasste gerade unter der Überschrift Was ist Postprivacy (für mich)? einige Thesen zu Post-Privacy zusammen; er meint unter anderem, er sehe Postprivacy vor allem als Verantwortung: "Sie steht in jener Verantwortung, die die Lücke des immer hilfloseren Datenschutzes hinterlässt."

"Ich gehöre zur ersten Generation, die von Anfang an mit digitaler Kommunikation aufgewachsen ist", sagt Schramm, die sich als Politikwissenschaftlerin vor allem für Fragen des Gemeinwesens und der Identität interessiert. Was bedeutet das Internet für sie persönlich? "Im Netz wohne ich halt, da ist mein Zuhause", antwortet Schramm. "Da habe ich Twitter, mein Blog, in dem ich auch sehr persönlich über mich reflektiere, und die Kommunikation über ICQ, Jabber oder E-Mail."

Auch Nicknames und Avatare seien Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, so Schramm, die auf Twitter als "laprintemps" unterwegs ist, abgeleitet von Igor Strawinskis Ballett "Le Sacre du Printemps". "Das Internet ist der Spiegel, der uns vorgehalten wird." Post-Privacy ist für Julia Schramm kein fertiges Modell, sondern Beitrag zu einer Debatte über das künftige Verhältnis von Internet und Gesellschaft. "Um dieses neu zu bestimmen, sind auch Visionen erforderlich." (vbr)