„Es ist das Ergebnis einer fehlerhaften Reparatur“

Der Strahlenbiologe Horst Zitzelsberger erklärt, warum es nicht möglich ist, einen Dosis-Schwellenwert für DNA-Schäden festzulegen, die durch radioaktive Strahlung entstehen und potentiell zu Krebs führen können.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Professor Dr. Horst Zitzelsberger ist Leiter der Abteilung für Strahlenzytogenetik am „Helmholtz Zentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt“. Er erforscht die Auswirkungen von radioaktiver Strahlung auf Zellen, darunter vor allem Chromosomenschäden und die Entstehung von Tumoren. Das Helmholtz Zentrum München ist eine Forschungseinrichtung des Bundes und des Freistaats Bayern und ist in 31 wissenschaftliche Institute und selbstständige Abteilungen gegliedert.
 Im Gespräch mit Technology Review erklärt Zitzelsberger, warum es nicht möglich ist, einen Dosis-Schwellenwert für DNA-Schäden festzulegen, die durch radioaktive Strahlung entstehen und potentiell zu Krebs führen können.

Technology Review: Wovon hängt es ab, ob radioaktive Strahlung zu DNA-Schäden führt, die später einmal Krebs verursachen können?

Horst Zitzelsberger: Wenn radioaktive Strahlung, oder ionisierende Strahlung, wie man korrekterweise sagen muss, auf eine Zelle trifft, sehen Sie Ionisationsereignisse – die Teilchen können Elektronen aus anderen Molekülen herausschlagen, so dass diese als positiv geladene Ionen zurückbleiben. Das sehen Sie auch in der DNA, wo es zu DNA-Brüchen kommen kann. Das ist der primäre Schaden in den Zellen. Im nächsten Schritt werden dann die DNA-Brüche von der Zelle repariert, aber dabei können relativ viele Fehler passieren. Was wir letztlich als Strahlenschaden sehen in der Zelle, ist das Ergebnis einer fehlerhaften Reparatur des initialen Strahlenschadens. Wenn davon nun Krebsgene betroffen sind, also zum Beispiel Onkogene aktiviert oder Tumorsupressorgene deaktiviert werden, dann kann eine Zelle entstehen, die sich unkontrolliert teilt und zu einer Krebszelle wird.

TR: Wie stark muss die DNA dafür geschädigt sein?

Zitzelsberger: Das kann theoretisch schon dann passieren, wenn ein einzelnes Teilchen oder Photon die Zelle trifft. Sie können also – nach heutigem Kenntnisstand – keine Schwellendosis angeben, unterhalb der kein Schaden angerichtet wird, wie wir das von Chemikalien kennen. Ionisierende Strahlung verursacht sogenannte stochastische Schäden, das heißt mit zunehmender Dosis steigt das Risiko.

TR: Es gibt also keine Dosis, die fast sicher zu Krebs führt?

Zitzelsberger: Nein. Schäden können grundsätzlich repariert werden. Ob es später zu Krebs kommt, ist immer davon abhängig, wie viele Fehler passieren, und wenn sie passieren, wo sie passieren. Das können Sie einfach nicht voraussagen. Natürlich können Sie Dosen angeben, ab denen das Risiko sehr stark zunimmt, aber selbst bei einem Sievert lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, die Person wird später einen Tumor bekommen. Das deckt sich auch weitgehend mit epidemiologischen Beobachtungen von bestrahlten Kollektiven. Wenn Sie etwa an die Überlebenden der Atombombenabwürfe denken, da waren dosisabhängig weniger Krebsfälle zu beobachten– wenn die exponierten Personen eine geringere Strahlendosis erhalten haben –, aber ein Nullrisiko gibt es nicht. Umgekehrt war der Anteil derjenigen, bei denen Tumore aufgetreten sind, umso höher, je höher die Dosis war, der sie ausgesetzt waren.

TR: Wenn die Wahrscheinlichkeit dosisabhängig steigt, handelt es sich um einen linearen Zusammenhang – doppelte Dosis, doppeltes Risiko zu erkranken?

Zitzelsberger: Ja, es gibt diese Dosis-Wirkung-Beziehungen. Das Problem ist, Sie müssen dafür wissen, welche Dosis wie viele Tumore verursacht. Das kann man beim Menschen aber nicht experimentell ermitteln, weil wir sie nicht Strahlungen aussetzen können, um anschließend zu sehen, wann ein Tumor entsteht. Da sind wir auf Erkenntnisse von bestrahlten Kollektiven angewiesen, bei denen die Dosis bekannt ist. Nehmen wir wieder das Beispiel Atombomben-Überlebende, die haben im Durchschnitt eine bestimmte Dosis (ca. 160 mSv) abbekommen. Wir beobachten die jetzt seit mehr als 50 Jahren, und stellen über den Anstieg der Tumorraten im Vergleich zur Spontanrate der Krebserkrankungen den Anteil an strahleninduzierten Tumoren fest.

Oder Sie haben Berufsgruppen, die beruflich Strahlung ausgesetzt waren, wie die Uranbergbauleute in der ehemaligen DDR. Bei ihnen hat man eine Erhöhung der Lungenkrebsfälle beobachtet. Allerdings ist unterhalb einer bestimmten Dosis kein linearer Zusammenhang zwischen Dosis und induzierten Tumoren mehr messbar, wir wissen also nicht, was unterhalb von etwa 100 Millisievert passiert. Diese Effekte sind mit statistischen Methoden epidemiologisch nicht mehr zu erfassen.

TR: Können Sie uns das an einem Beispiel erklären?

Zitzelsberger: Wenn ich an die Dosis denke, die Tschernobyl etwa in Südbayern verursacht hat oder generell in Deutschland, das war weniger als ein Millisievert an zusätzlicher Dosis über mehrere Jahre verteilt. In diesem Dosisbereich haben Sie keine Chance, sagen wir in der bayerischen Bevölkerung eine erhöhte Tumorrate festzustellen oder eine Erhöhung der Rate von Erbkrankheiten. Das sind individuell sehr weniger Fälle, die statistisch nicht auffallen. Sie müssten das ganze Kollektiv über Jahrzehnte beobachten, um diese wenigen Fälle zu finden.

TR: Welche Beobachtungen wurden nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl gemacht?

Zitzelsberger: Man hat danach in den stark exponierten Gebieten eine signifikante Erhöhung der Schilddrüsenkrebsrate bei Kindern gefunden, aber bis heute keine signifikanten Erhöhungen von Erbkrankheiten. Als das Reaktorunglück 1986 passiert ist, hatten wir alle erwartet, dass wir als erstes einen Anstieg von Leukämiefällen sehen werden, ähnlich wie es nach den Atombombenabwürfen zu beobachten war. Dort stiegen schon wenige Jahre nach der Exposition die Leukämiefälle an. Nach Tschernobyl ist das aber nicht passiert. 1990 kamen die ersten Berichte, dass es einen Anstieg der Schilddrüsenkrebsrate bei Kindern gibt. Das hatte anfangs die Mehrzahl der Experten bezweifelt, weil nach den Atombombenabwürfen ein Anstieg solcher solider Tumore erst zehn, fünfzehn Jahre nach dem Abwurf aufgetreten ist.

Da hatten wir aber eben eine völlig andere Expositionssituation. Kinder waren über die Nahrungskette betroffen, die sehr spezifisch mit radioaktiven Jodisotopen angereichert war. Das Radioiod hat dann zu signifikanten Dosen in der Schilddrüse geführt. Wir müssen also abhängig von der Expositionsart von einem unterschiedlichen Schadensszenario ausgehen. Das macht es auch so schwer, die Situation in Japan einzuschätzen. Wir wissen nicht genau, was ist schon freigesetzt worden, was wird noch freigesetzt werden und was wird davon zur Exposition der Bevölkerung beitragen.

TR: Was lässt sich nach den bisherigen Erkenntnissen sagen?

Zitzelsberger: Bis dato muss man davon ausgehen, dass sich der Großteil des radioaktiven Inventars noch in den Reaktoren beziehungsweise in den Abklingbecken befindet. Wir haben also noch nicht die Dimensionen erreicht wie bei Tschernobyl, wo beispielsweise der überwiegende Anteil des ganzen radioaktiven Jods des Reaktors freigesetzt wurde. Japan wird hoffentlich anders reagieren wie Weißrussland und die Ukraine damals und wird Jodprophylaxe bei der Bevölkerung betreiben, wenn es noch zu schwerwiegenderen Freisetzungen kommt. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es zu stochastischen Schäden wie Krebs bei einigen exponierten Personen kommen wird. Ob wir das allerdings jemals statistisch werden belegen können, das kann ich nicht abschätzen, weil die Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß noch nicht überblickt werden kann. (vsz)