Das Milliarden-Euro-Rennen

Darf’s ein bisschen mehr sein? Vernunftbegabte, fühlende Roboter, allgegenwärtige autarke oder sich selbst organisierende Sensornetze: Sechs europäische Forschungsgruppen konkurrieren mit atemberaubenden Visionen um einen zehnstelligen Betrag.

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Darf’s ein bisschen mehr sein? Vernunftbegabte, fühlende Roboter, allgegenwärtige autarke und sich selbst organisierende Sensornetze, die jeden Menschen auf Schritt und Tritt überwachen und beschützen, für jeden Patienten das individuelle Genom zur Diagnose und Therapie – all das könnte in elf Jahren schon Wirklichkeit sein. Die das sagen, sind weder versponnene Science-Fiction-Schreiber noch überoptimistischen Fortschrittsenthusiasten, sondern in der Regel nüchterne Wissenschaftler. Der Lockruf des Geldes drängt sie zu diesen – bisweilen abenteuerlich klingenden – Versprechungen.

Doch der Reihe nach: Vergangene Woche hat die EU die zweite wissenschaftliche Konferenz ihres so genannten FET Programms in Budapest abgehalten. FET steht für "Future and Emerging Technologies" und ist eine ziemlich coole Veranstaltung – man kann sich das Programm ein bisschen vorstellen, wie die kleine, zivile Schwester der DARPA. Denn im Rahmen dieser Initiative werden Projekte aus der Informations- und Kommunikationstechnologie gefördert, die in den Bereich der "spekulativen Forschung" gehören, wie etwa Quantencomputing, Arbeiten zur Dynamik komplexer Systeme und Projekte an der Schnittstelle zwischen Hirnforschung, Biologie und Robotik.

Doch gute Forschung reicht bekanntlich nicht, wenn andere daraus Produkte machen. Vor zwei Jahren hatte die EU-Kommission also beschlossen, dass man sich künftig nicht mehr ständig von der USA und den Asiaten die Show stehlen lassen will. Bis 2012 will Europa daher zwei Leuchtturmprojekte aus dem FET-Bereich auswählen, die über zehn Jahre mit je einer Milliarde Euro gefördert werden sollen. Deren Resultate sollen nicht nur die europäische Forschung nach vorne treiben, sondern natürlich auch die hiesige Industrie – im Idealfall sollen völlig neue Technologien mit neuen Anwendungsfeldern entstehen.

Insgesamt haben sich 26 Großprojekte um diese Förderung beworben. Im März wählte eine Expertenkommission sechs Finalisten aus, die nun vergangene Woche in Budapest offiziell vorgestellt wurden. Die Finalisten erhalten je 1,5 Millionen Euro, um ihre Anträge detailliert auszuarbeiten. Welche zwei Projekte am Schluss gefördert werden, entscheidet die Kommission im Frühjahr 2012.

Das Projekt "Robot Companion for Citizens “ hat sich nicht weniger auf die Fahnen geschrieben als die Entwicklung "vernunftbegabter" Roboter, die "ein Bewusstsein von sich selbst" haben und die Bedürfnisse und Ziele von Menschen verstehen. Das Projekt "Graphene CA ", will eine systematische Erforschung und Entwicklung von Graphen-Mikroelektronik vorantreiben – die nur eine Atomlage dünnen Kohlenstoffschichten, für deren Erforschung die Physiker Andre Geim und Konstantin Novoselov 2010 den Physik-Nobelpreis bekommen hatten, sollen völlig neue Schaltkreise ermöglichen. Das Projekt "Guardian Angels " will allgegenwärtige, intelligente und energieautonome Sensoren entwickeln, die Menschen im Alltag unterstützen sollen. Dazu zählen etwa Sensoren, die die Körperfunktionen von Kleinkinder oder Pflegebedürftigen überwachen genau wie Netze, die Umweltbedingungen messen, vor Naturkatastrophen warnen oder helfen, Energie zu sparen.

Im "FutureICT "-Projekt soll ein "Wissensbeschleuniger" entwickelt werden, eine Art Super-Antwortmaschine als Mischung aus Suchmaschine, Predictive Modeling und Reality Mining, die Bürgern und Politikern hilft, die komplexen Wechselwirkungen in menschlichen Gesellschaften besser zu verstehen. Im "Human Brain Project" soll eine biologisch realistische Simulation des menschlichen Gehirns entwickelt werden, die nicht nur helfen soll, Krankheiten wie Alzheimer zu behandeln, sondern auch biologisch inspirierte "Robotergehirne" zu bauen. Im Projekt "IT Future of Medicine" schließlich geht es darum, "datengetriebene" individualisierte Medizin in großem Stil zu entwickeln – jeder praktizierende Arzt sollte jederzeit in der Lage sein, das persönliche Genom seiner Patienten zur Entwicklung maßgeschneiderter Therapien zu nutzen.

Angesichts der Kühnheit der vorgestellten Entwürfe blieb mir als Beobachter gelegentlich etwas die Kinnlade hängen. Doch unter die Freude, dass die EU nun offenbar endlich Ernst machen will mit visionären Forschungsprojekten, mischt sich ein wenig Skepsis: Natürlich setzten jetzt alle Finalisten alles daran, die politischen Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit von der Machbarkeit und Sinnhaftigkeit ihrer Ideen zu überzeugen. Kritische Fragen oder gar Zweifel sind in diesem Projekt-Stadium nicht gefragt. Und natürlich locken so hübsche Bräute auch viele Werber an – so manche Forschungsgruppe dürfte versuchen, noch an Bord des einen oder anderen Konsortiums zu kommen, um von dem warmen Regen aus Brüssel zu profitieren.

Aber ist das wirklich gut und sinnvoll? Natürlich braucht man große Entwürfe und große Ideen, wenn man große Ziele erreichen will, keine Frage. Aber was passiert, wenn die Flagschiffe ihre Ziele nicht erreichen? Oder wenn sich im Verlauf der Forschung herausstellt, dass es nicht wünschenswert ist, diese Ziele zu erreichen? Und wird das ganze Geld, das diese Projekte gepumpt wird, nicht an anderer Stelle fehlen? Ich weiß es nicht. Was meinen Sie? (wst)