Wenn Häuser plötzlich schwimmen lernen

Das Megabeben in Japan war so stark, dass selbst Hunderte von Kilometern entfernt noch ein gefährliches Phänomen aufgetreten ist: die Bodenverflüssigung.

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Von
  • Martin Kölling

Das Megabeben in Japan war so stark, dass selbst Hunderte von Kilometern entfernt noch ein gefährliches Phänomen aufgetreten ist: die Bodenverflüssigung.

Die Bilder aus Tokios Nachbarpräfektur Chiba werde ich nicht vergessen: Nach den Erdstößen vom 11. März begannen kleinere Wohnblocks und Gehwegplatten auf einmal im Erdreich wie Schiffe oder Eisschollen hin und her zu schaukeln. Autos versackten, Laternenpfähle kippten um. Denn durch die Bebenwelle drang Wasser im Erdreich empor und verwandelte ehemals festen Grund in eine schlammige Brühe.

Bodenverflüssigung nennt sich dieses Phänomen. Und es ist extrem gefährlich. In Japan sind bei früheren Erdbeben schon mehrgeschossige Wohnblocks umgekippt. Dieses Mal lief es zwar für Menschen glimpflich ab. Aber eine Raffinerie in Chiba ging gut sichtbar von Tokio aus in Flammen auf und 17.000 Häuser wurden beschädigt, teilweise bis zur Unbewohnbarkeit. Dazu gehört nicht viel.

Schon ein kleiner Schrägstand reicht aus, um die Menschen aus dem Haus zu treiben. So habe ich vom japanischen Verband der Bautechnik gelernt, dass Menschen eine Neigung von mehr als 0,34 Grad bemerken. Ab 0,57 Grad beginnen wir auf Dauer Schmerzen zu empfinden. Ab 0,86 Grad geht es uns richtig schlecht und es kommt zu dauerhaften gesundheitlichen Schäden, wenn man weiterhin in diesen Häusern wohnt.

Besonders stark hat es Urayasu inklusive dem dort beheimateten "Disney Land" getroffen, eine Tokioter Vorstadt, die auf aufgeschüttetem Land an der Nordspitze der Bucht von Tokio gebaut worden ist. Allein dort sind 7971 Gebäude von Bodenverflüssigung betroffen. Tokio selbst kam noch einmal glimpflich davon. Aber das Beispiel machte uns Hauptstädtern mal so richtig bewusst, dass auch ein Großteil der Stadt sprichwörtlich auf Sand gebaut ist. Bei einem Erdbeben der Stärke 7,3 unter der nördlichen Bucht von Tokio sind einer amtlichen Simulation zufolge etwa 20 Prozent der Präfektur Tokio oder fast 50 Prozent der 23 zentralen Bezirke akut von Bodenverflüssigung bedroht. Mehr als 33.000 Gebäude im Großraum könnten mehr oder weniger tief im Boden versacken.

Keine schöne Vorstellung. Immerhin kann ich mich damit trösten, in einem Hochhaus zu wohnen. Dessen Betonpfeiler sollten – wenn nicht gepfuscht wurde – bis aufs Gestein reichen, das sich irgendwo unter den Sedimenten befindet, auf denen Tokio zum Großteil gebaut worden ist. Ansonsten helfen nur zwei Maßnahmen:

1. Vorbeugung. Ich könnte mit alten Luftaufnahmen und über 100 Jahre alten Karten nachforschen, ob mein Haus in spe sich auf dem Gelände eines ehemaligen Nassreisfeldes oder gar eines kleinen Weihers befindet. Solche Grundstücke sollte man meiden, da sie tendenziell besonders gefährdet sind. Meine Lehren: Um mich gegen Bodenverflüssigung zu schützen, würde ich mein Häusle irgendwo bauen, wo das Fundament direkt auf Felsgestein aufsetzen kann. Doch da diese Regionen meist in den Bergen liegen, muss man stattdessen darauf aufpassen, dass in der Region nicht Erdrutsche drohen. Gerade dieser Tage hat das Wetteramt für weite Teile des Landes wegen starker Regenfälle von bis zu 200 Millimetern Niederschlag in 24 Stunden Erdrutschwarnungen ausgegeben. (Tjaja, in Japan geht der Nachschub an Naturkatastrophen nicht aus.)

2. Nachbesserung. Wie ich aus dem Fernsehen erfahren habe, kann ich auch nachträglich meinen Untergrund verstärken. So bieten Firmen an, an mehreren Stellen Mörtel ins Erdreich zu pumpen und so den Untergrund zu verdichten. Eine andere Idee ist, das Betonfundament eines Einfamilienhauses auf kleine Betonpfeiler oder besser noch vier Meter tief reichende Betonmauern zu stellen. Bei der letztgenannten Maßnahme wird die Erde so fest eingeschlossen und kann nicht entweichen. In einem Test bleibt das derart geschützte Haus obenauf, während das ungeschützte Nachbarhaus im Schlamm versinkt.

Beim Schreiben dieser Zeilen ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass das Sein wirklich das Bewusstsein bestimmt. Ich lerne hier in Japan Sachen aus erster Hand, von denen ich in Deutschland nicht einmal zu (alb-)träumen gewagt hätte. Auf der anderen Seite drängt sich da eine Stimme wie Löwenzahn durch den Asphalt und wispert, was ich zum Teufel noch mal hier suche, wenn ich um all die Gefahren weiß.

Wahrscheinlich schreibe ich in letzter Zeit meine Blog-Texte deshalb überwiegend zum Thema Beben und Atomkatastrophe. Als eine Art Verdrängungsmechanismus, zum Wegrationalisieren der ständigen Hintergrundangst. Den Idealzustand leben die Japaner mir vor: ein stoischer, auf tiefstem Fatalismus gegründeter Umgang mit der Gefahr. Weglaufen innerhalb Japans geht nicht, überall drohen Erdbeben, Vulkane, Taifune und entweder Tsunamis an der Küste oder Erdrutsche in den Bergen. Es kommt, wie es kommt. Und ansonsten vertraue ich darauf, dass die Häuser wirklich so erdbebensicher sind, wie immer behauptet wird. (bsc)