"Es wird praktisch permanent Radioaktivität freigesetzt"

Michael Sailer, Mitglied der Reaktorsicherheitskommission und Sprecher der Geschäftsführung des Öko-Instituts, über den aktuellen Stand in Fukushima und die Konsequenzen.

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Michael Sailer, Mitglied der Reaktorsicherheitskommission und Sprecher der Geschäftsführung des Öko-Instituts, über den aktuellen Stand in Fukushima und die Konsequenzen.

Michael Sailer ist ein gefragter Kerntechnik-Experte. Von 2002 bis 2006 war der technische Chemiker, der sich seit 1975 mit Sicherheitsfragen der Atomkraft beschäftigt, Vorsitzender der Reaktorsicherheitskommission des Bundesumweltministeriums und ist auch heute noch ihr Mitglied. Seit Juni 2008 ist er außerdem Leiter der Entsorgungskommission, die die Bundesregierung in "Angelegenheiten der nuklearen Entsorgung" berät.

Technology Review: Herr Sailer, das Thema Fukushima ist in den letzten Wochen kaum mehr in den Schlagzeilen. Vor Ort hat sich jedoch kaum etwas zum Positiven gewandelt – im Gegenteil, teilweise hat sich der Zustand verschlimmert, wenn man die Messungen betrachtet. Wie ist der aktuelle Stand Ihres Wissens nach?

Michael Sailer: Zentrales Problem ist nach wie vor, dass noch keine stabile Kühlung hergestellt ist. Dies gilt für die Überreste der Brennelemente in allen drei Reaktoren. Insofern besteht weiterhin ein Risiko. Hinzu kommt, dass praktisch permanent Radioaktivität freigesetzt wird – sowohl in die Luft als auch ins Meer.

Beim Meer spielt eine große Rolle, dass durch die zahlreichen Sprühaktionen große Mengen an stark kontaminiertem Wasser anfallen. Aus Sicherheitsgründen müsste das Wasser aus den Anlagen raus, darf aufgrund des Strahlungsniveaus aber nicht ins Meer. Das passt alles nicht zusammen. Es wird in den nächsten Wochen also weiterhin darum gehen, die Fragen Kühlung und Begrenzung der Freisetzung von Radioaktivität in Einklang zu bringen.

TR: Wie wird sich das Szenario weiterentwickeln? Ist es vorstellbar, dass es erneut zu einer explosionsartigen Freisetzung von Radioaktivität kommt?

Sailer: Grundsätzlich kann da immer noch viel passieren, auszuschließen ist das also nicht. Es sind noch Materialien da, die bei Überhitzung Wasserstoff bilden können und damit Knallgas.

Es kann aber auch passieren, dass Teile der nach wie vor bestehenden Strukturen zusammenbrechen. Metall und Beton in den Gebäuden sind in den letzten Wochen in einer Weise belastet, für die sie nie ausgelegt waren – der hohe Druck, das eingeleitete Kühlwasser sind unberechenbare Faktoren. Hinzu kommen die Erdstöße, es kam ja mehrmals zu Nachbeben. Man kann noch gar nicht sagen, was die bewirkt haben.

Es ist also nicht abzusehen, wie lange das alles stabil bleibt – und was die Folgen wären, sollte es zu weiteren Instabilitäten kommen.

TR: Glauben Sie, dass ein Ausmaß der Katastrophe von Tschernobyl bereits erreicht ist oder noch erreicht werden könnte?

Sailer: Die Frage muss differenziert beantwortet werden. Von der freigesetzten Radioaktivitätsmenge bewegt man sich in diese Richtung – die Experten streiten sich, ob man nun bereits ein Zehntel oder ein Fünftel erreicht hat. Ein wichtiger Unterschied ist aber, dass in Fukushima ein sehr viel höheres radioaktives Inventar vorhanden ist. Das heißt, es könnte noch viel mehr als in Tschernobyl freigesetzt werden. Momentan sind wir ja zum Glück in Fukushima noch in einem Stadium, in dem der größte Teil des Inventars in der Anlage verblieben ist.

Ein wichtiger Unterschied ist zweitens, dass die Art der Freisetzung eine ganz andere war. In Tschernobyl hatte man eine große Freisetzung über wenige Stunden bzw. Tage und den Reaktorbrand direkt nach dem Unfall, der zu einer Freisetzung in hohe Luftschichten führte – dann war alles freigesetzt. Die Radioaktivität hat sich deswegen breit über Europa verteilt. In Japan erfolgten die Freisetzungen in deutlich niedrigere Luftschichten. Das führt zu höheren Kontaminationen in der näheren Umgebung.

Und dann ist da noch die Freisetzung ins Meer, die ja in Tschernobyl nicht vorkam.

TR: Zwischenzeitlich galt Block 1 als der Reaktor, der im Bereich Druck und Temperatur zu den Hauptsorgenkindern gehörte. Welche Auswirkungen auf die Gesamtrisikosituation hatte das?

Sailer: Die Situation wandelt sich jeden Tag, kann aber auch mal zehn Tage kaum verändert bleiben. Vom Grundsatz her kann man an jedem Tag sagen, wo sieht man die höchste Gefahr in welchem Block. Es lässt sich aber nicht vorhersagen, wie es in zwei Wochen aussieht.

Fakt ist: Keiner der drei Reaktoren ist stabil gekühlt und beim Block 4, in dem sich alle Brennelemente im Lagerbecken befinden, heizt sich das Kühlwasser immer wieder bis in hohe Temperaturbereiche um 90 Grad auf. Wenn es dort eine stabile Kühlung gäbe, wäre man etwa bei 25 Grad. Man muss außerdem wissen, dass auch die Brennelementelagerbecken in den anderen drei Blöcken gegenüber der Atmosphäre freiliegen. Es geht also bei den Lagerbecken nicht nur um Block 4.

TR: Auf dem Gelände befinden sich große Mengen an Trümmern, die teilweise stark strahlen. Wie stark behindert das die Arbeiten?

Sailer: Wenn man einzelne Bereiche hat, die mit 400 Millisievert pro Stunde strahlen, stört das extrem. Normal zugelassene Dosen für Notfälle liegen im Bereich von 100 Millisievert – pro Jahr.

TR: Die einzige Möglichkeit ist dann der Einsatz von Robotern. Doch das wirkt, zumindest auf Außenstehende, teilweise recht hilflos.

Sailer: Die Roboter sind jetzt geliefert, stammen aus irgendwelchen Programmen in anderen Ländern und sind nicht unbedingt explizit darauf ausgelegt, schweres radioaktives Material zu handhaben. Das ist eindeutig eine Notfallmaßnahme, dafür hat man ja nicht langjährig trainiert.

TR: Fukushima scheint ein Beispiel dafür zu werden, wie Atomunfälle in Wahrheit ablaufen – gestreckt über viele Monate, gespickt mit viel Lethargie.

Sailer: Das ist sicher so. Die Vorausberechnungen solcher Unfälle zeigen auch, dass sich so etwas über Wochen und Monate abspielen könnte. Das sieht man jetzt in Fukushima. Glück im Unglück war noch, dass die Region verhältnismäßig dünn besiedelt ist. Wäre das in Tokio oder Kyoto passiert, hätte man noch viel größere Probleme. Oder in Deutschland, wo es Regionen gibt, wo im 20-Kilometer-Umkreis um ein AKW eine halbe Million Menschen leben.

Doch auch in Fukushima ist es für die Betroffenen extrem schwer. Wir sprechen über viele, viele Zehntausende. Aber es hätte eben auch sein können, dass man über Millionen reden müsste.

TR: Kommen wir zu Ihrer Arbeit in der Reaktorsicherheitskommission. Momentan gibt es erste Signale, dass das kerntechnische Regelwerk in Deutschland verschärft werden könnte – neben dem beschleunigten Atomausstieg. Wie ist hier der aktuelle Stand?

Sailer: Die jetzige Überprüfung ist der sogenannte Stresstest, bei dem man ermitteln will, was passiert, wenn schlimmere Ereignisse eintreten als das, was man bislang für die aktuelle Auslegung angenommen hatte. Man wird im zweiten Schritt dann überlegen müssen, welche schlimmeren Szenarien man in Zukunft für die sicherheitstechnische Auslegung unterstellen muss. Das wird aus meiner Sicht sicher zu Änderungen im kerntechnischen Regelwerk führen.

TR: Die Reaktorsicherheitskommission ist für Deutschland verantwortlich, doch es gibt auch einen EU-weiten Stresstest. Bei dem ist zu vermuten, dass die atomfreundlichen Franzosen beispielsweise weniger harte Regeln für sich festlegen werden.

Sailer: Es ist nach wie vor im EU-Bereich so, dass die nationalen Gremien für die Atomsicherheit verantwortlich sind. Es gibt keine EU-weiten Zuständigkeiten. Dass man jetzt überhaupt einen Stresstest vereinbart hat, ist schon mal ein Fortschritt in den Anforderungen.

Aber es wird sicher so sein, das jedes Land seinen Level von Stresstest unterschiedlich definiert. Da bin ich insbesondere bei grenznahen Kernkraftwerken sehr gespannt, wie die Politik dann weiter mit solchen Dingen umgeht. (bsc)