Der Doc im Smartphone

Eine neue App wertet Standortdaten und Kommunikationsverhalten automatisch aus, um Nutzer bei Bedarf vor einem ungesunden Lebenswandel zu warnen – und in Zukunft vielleicht auch Krankenversicherungen.

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Von
  • Emily Singer

Eine neue App wertet Standortdaten und Kommunikationsverhalten automatisch aus, um Nutzer bei Bedarf vor einem ungesunden Lebenswandel zu warnen – und in Zukunft vielleicht auch Krankenversicherungen.

In Zeiten explodierender Krankenversicherungskosten ist Gesundheit erste Bürgerpflicht. Aber täglich wird sie bedroht, nicht zuletzt durch ein hektisches Alltagsleben. Ginger.io, eine Ausgründung des MIT Media Lab, will nun Anzeichen für einen ungesunden Lebenswandel mit einer neuen App aufspüren und Smartphone-Nutzer rechtzeitig warnen.

Die Anwendung namens „DailyData“ analysiert dazu Standortinformationen sowie die Häufigkeit von SMS und Anrufen. „Veränderungen bei medizinischen Therapien oder der Stimmungslage schlagen sich in Kommunikations- und Bewegungsmustern nieder“, sagt Karan Singh, Mitgründer von Ginger.io. „Die Spannbreite der Anrufe ist ein gutes Beispiel: Wer in eine depressive Phase stürzt, neigt dazu, sich von seiner Umwelt zu isolieren und nur noch einige wenige Menschen anzurufen.“ Derzeit wird die App in einer klinischen Studie am Cincinnati Children’s Hospital unter anderem an Morbus-Krohn-Patienten getestet.

Mobile Geräte zu nutzen, um Verhalten zu analysieren, ist einer der neuen Trends in der Gesundheitsfürsorge. Im Unterschied zu anderen Anwendungen sammelt DailyData die hierfür nötigen Daten aber automatisch. Denn müssen Nutzer selbst Informationen eingeben, hängt der Erfolg der Anwendung von deren Selbstdisziplin ab. „Schon der kleinste Schritt, den Nutzer selbst machen müssen, kann dazu führen, dass sie das Interesse an einer solchen App verlieren“, sagt Joseph Kvedar, Direktor des Center for Connected Health an der Harvard Medical School.

In der Anfangsphase erstellt DailyData ein Modell des Kommunikationsverhaltens eines Nutzers. Danach beginnt es, nach Abweichungen von diesem Muster zu suchen. Bei Menschen, die an einer so genannten bipolaren Störung leiden, könnte ein plötzlicher Schwall von SMS und Anrufen auf den Beginn einer manischen Phase hindeuten. „Wir können nicht nur das bisherige mit dem aktuellen Verhalten vergleichen, sondern auch mit Verhaltensmustern bestimmter demographischer Gruppen“, erläutert Anmol Madan von Ginger.io.

Nutzer haben zudem die Möglichkeit, die Daten für die App selbst um weitere Informationen anzureichern: welche Medikamente sie nehmen, welche körperlichen Symptome sie bei sich wahrnehmen oder was sie mit Freunden und Bekannten unternehmen. DailyData bereitet alle relevanten Daten visuell auf, so dass Nutzer selbst verfolgen können, wie die Anzahl der SMS womöglich mit Aktivitäten der letzen Tage zusammenhängt (siehe Bild). Überschreitet die Abweichung vom Normalverhalten einen gewissen Wert, gibt DailyData auch Warnhinweise wie „Sie wirken gestresst, ist alles in Ordnung?“ oder „Sie haben an den Wochenenden zuletzt härter als sonst gearbeitet“.

Die große Frage ist allerdings, welche Schlüsse auffällige Verhaltensänderungen tatsächlich zulassen. Wer einige Tage wenig telefoniert, weil im Job ein Projekt in die Endphase geht, kann dasselbe Muster zeigen wie eine Person, die mit nachtschwarzen Gedanken tagelang zuhause im Bett bleibt und die Welt aussperrt. Singh versichert jedoch, dass die zugrundeliegenden Algorithmen von DailyData für solche Unterscheidungen immer weiter verfeinert werden können, auch, indem Nutzer sie mit einem Feedback füttern. „Je mehr Daten und Nutzer wir haben, desto besser werden unsere Analysen“, sagt sein Kollege Madan.

Die bisher veröffentlichte Version der App gibt Nutzern nur Zugang zu ihren eigenen Ergebnissen. In künftigen Versionen könnten die Warnhinweise aber auch an Familienangehörige oder Pfleger gehen. Ginger.io plant auch, die Software auch für Krankenversicherungen, Ärzte oder Pharmaunternehmen zu vermarkten, die aus den Daten Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen persönlichem Verhalten und Gesundheit sammeln sollen. „Solche Daten standen diesen Firmen bisher nicht zur Verfügung“, betont Madan.

Datenschutz-bewusste Menschen dürften Madans Begeisterung indes mit ziemlich gemischten Gefühlen aufnehmen. Erst recht nach den jüngsten Enthüllungen darüber, wie Apple und Google Standortdaten ohne Wissen ihrer Nutzer sammeln. Können die Vorteile die Datenschutzbedenken wettmachen? Deborah Estrin, Direktorin des Center for Embedded Networked Sensing an der University of California in Los Angeles, ist überzeugt davon. Wer etwa wegen Depressionen behandelt werde, habe bestenfalls einmal in der Woche einen kurzen Arzttermin, sagt Estrin. „Mit solch einer App kann man die zurückliegenden Wochen viel genauer untersuchen.“ Ohnehin würden viele Menschen längst bereitwillig beim Datensammeln mitmachen, und wenn es nur um Marketingaktionen gehe. „Warum soll man die Daten nicht für etwas verwenden, das den Menschen selbst hilft?“, fragt Estrin.

Zudem weisen immer mehr Forschungsarbeiten darauf hin, dass Informationen über das eigene Verhalten der Gesundheit zugute kommen können. „Wenn wir etwas messen und das Ergebnis einer Person zur Verfügung stellen, schärft dies das Bewusstsein“, sagt Joseph Kvedar. „Die Menschen bekommen so einen Einblick, wie ihr Lebensstil und ihre Gesundheit zusammenhängen, den sie sonst nur mit einer medizinischen Ausbildung haben könnten.“ (nbo)