IBMs neuer Chip rechnet (fast) wie wir

Wissenschaftler aus dem IBM-Forschungszentrum Almaden haben einen Chip vorgestelt, der die grundlegenden Funktionen von neuronalem Gewebes imitieren kann. Der "kognitive Rechner" soll als Low-Power-Alternative zu herkömmlichen Computern dienen.

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Wissenschaftler aus dem IBM-Forschungszentrum Almaden haben einen Chip vorgestelt, der die grundlegenden Funktionen von neuronalem Gewebes imitieren kann. Der "kognitive Rechner" soll als Low-Power-Alternative zu herkömmlichen Computern dienen.

Verglichen mit aktuellen gigahertz-schnellen Prozessoren wirkt der neue Chip, den Wissenschaftler aus dem IBM-Forschungszentrum Almaden kürzlich vorgestellt haben, nicht sonderlich beeindruckend. Doch das unscheinbare Stück Silizium markiert möglicherweise einen Wendepunkt in der Geschichte der IT-Industrie. Denn es ist den Forschern erstmals gelungen, die grundlegenden Funktionen des neuronalen Gewebes zu imitieren.

Während ein klassischer Computer gespeicherte Daten aus seinem Speicher abruft, diese Daten nach bestimmten Instruktionen - dem Programm - bearbeitet und das Resultat wiederum speichert, funktioniert die Informationsverarbeitung im Gehirn sehr viel effizienter: Dort werden Informationen nicht seriell sondern parallel verarbeitet - und Speicher und „Rechenwerk“ sind nicht voneinander getrennt, denn jedes Neuron ist mit vielen anderen Neuronen verbunden.

Ein einzelnes Neuron gibt ein Signal ab, indem es einen elektrischen Impuls aussendet, der typischerweise einige zehn Millivolt groß und einige Millisekunden lang ist. Empfängt ein anderes Neuron hinreichend viele solcher Eingangspulse, sendet es selbst auf seinem Axon - eine Art biologischer Output-Leitung - einen eigenen „Spike“. Die Stärke der neuronalen Verbindungen definiert, wie das Netz auf einen vorgegebenen Input reagiert. Ein Lernprozess lässt sich implementieren, indem man dem System erlaubt, die Stärke dieser Verbindungen anzupassen.

Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler, diese biologischen Prinzipien zu imitieren: Bereits 1959 baute der amerikanische Psychologe Frank Rosenblatt Netze ein „Perceptron“ - ein Netz aus künstlichen, stark vereinfachten, elektronischen Neuronen, das einfache, optische Muster erkennen konnte. Weitgehend durchgesetzt haben sich solche Netzwerke jedoch bis heute im wesentlichen nur in Form von Software. Die simulierten neuronalen Netze sind zwar recht leistungsfähig, aber zu langsam, um sie wirklich universell einzusetzen.

Jetzt haben Dharmendra Modha und seine Kollegen bei IBM in Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen US-Universitäten im Rahmen ihrer „cognitive computing“-Initiative erstmals zwei Prototyp-Chips vorgelegt, der auf den biologischen Prinzipien neuronalen Gewebes beruht. Technische Einzelheiten zum Aufbau und zur Leistungsfähigkeit des Chips will IBM im Oktober im Rahmen einer Fachkonferenz vorstellen.

Bei der Entwicklung der Chips, die Teil der mehrjährigen Forschungsinitiative SyNAPSE ist, wurden nach Angaben von IBM Erkenntnisse und Wissen aus der Nano- sowie Neurowissenschaft und dem Supercomputing eingebracht. IBM und eine Reihe US-amerikanischer Universitäten haben zudem für die zweite Phase des SyNAPSE-Projektes Unterstützung in Höhe von 21 Mio. Dollar von der amerikanischen DARPA-Behörde erhalten. Das Ziel von SyNAPSE ist es, ein Computersystem zu entwickeln, das nicht nur verschiedenartige sensorische Eingangsdaten gleichzeitig analysiert, sondern sich auch auf Basis seiner Interaktion mit der Umwelt dynamisch rekonfiguriert.

„Das menschliche Gehirn ist in der Lage, mehrere Sinneseindrücke zu integrieren -Gesichtssinn, Gehör, Geruch - und diese Sinneseindrücke mit verschiedensten Aktionen zu verknüpfen - wie etwa Sprache oder der Manipulation von Gegenständen“, erklärt Modha. „Bei all dem braucht es weniger Leistung als eine 20-Watt-Glühbirne, weniger als zwei Liter Volumen und weniger als drei Pfund Gewicht. Wenn wir soviel Energie verbrauchen würde wie unsere Computer, hätte unsere Art niemals überlebt.“

Ziel ist ein System, das nicht nach der seit über einem halben Jahrhundert geltenden, so genannten Von-Neumann-Architektur aufgebaut ist: Ein Computer aus Rechen-, Steuer-, Eingabe- und Ausgabeeinheit sowie einem Arbeitsspeicher, der Aufgaben löst indem er Instruktionen Schritt für Schritt abarbeitet.“Das Gehirn kennt keine lineare Abarbeitung von Befehlen“, sagt Modha. „Alle Neuronen arbeiten gleichzeitig - es ist ein massiv-paralleles System, das verteilt rechnet. Neuronen und Synapsen sind nicht weit voneinander entfernt, das heißt, die Daten werden dort gespeichert, wo sie auch verarbeitet werden. Und es gibt keinen zentralen Taktgeber im Gehirn - die Informationsverabeitung ist ereignisgesteuert. Mit anderen Worten: Die Neuronen arbeiten nur dann, wenn es tatsächlich auch etwas zu tun gibt. Das ist ein total anderes Paradigma der Informationsverarbeitung.“

„Ich will jedoch absolut klar sagen, dass wir kein Interesse daran haben, die heute existierende Computer-Architektur zu ersetzen“, schränkt Modha ein. „Was konventionelle Computer tun, tun sie sehr effizient, und das wird auch in Zukunft wichtig sein“, erklärt Modha. „Was wir suchen, ist ein komplementäres - ein ergänzendes Paradigma der Informationsverarbeitung - um Probleme zu lösen, für die konventionelle Computer nicht sehr gut geeignet sind. Wenn Sie so wollen, sind die heute existierenden Computer Maschinen, die wir der Funktionsweise der linken Gehirnhälfte zuordnen können: Rational, analytisch, textorientiert, gut im Umgang mit abstrakten Zahlen und Symbolen. Was wir schaffen wollen, sind Computer der rechten Gehirnhälfte: parallel, subsymbolisch, ereignisgesteuert, verteilt, fehlertolerant.“

Kern dieses Systems ist ein künstliches, neuronales Netzwerk, das in Hardware implementiert ist. Der Kern des Neuro-Chips besteht aus aus 256 künstlichen Neuronen, die als digitale Schaltelemente implementiert sind. „Stellen Sie sich jetzt vor 256 vertikale Linien vor. Jedes Neuron hat zwei vertikale Linien, die es schneiden, das sind die Dendriten“, sagt Modha. „StellenSie sich jetzt 256 horizontale Linien vor - die Axone. Die Schnittpunkte sind die Synapsen - wir haben also rund 64.000 Synapsen in einem Prototyp-Chip. Im zweiten haben wir 256 Dendrite und 1024 Axone also rund 256000 Neuronen.“

Das künstliche neuronale Netz kann ein einfaches Video-Spiel spielen, funktioniert wie ein assoziativer Speicher, der in der Lage ist, unvollständige Muster zu erkennen und zu ergänzen und er kann ein sehr einfaches - virtuelles - Fahrzeug durch ein einfaches virtuelles Labyrinth steuern. „Das erstaunliche ist nicht, dass der Chip all diese Dinge kann. Das faszinierend ist, dass er all diese Dinge mit einer universellen Architektur bewältigen kann, die dem neuronalen Substrat ähnelt“, sagt Modha. Tatsächlich hat IBM mit dem Projekt eine erstaunliche Geschwindigkeit vorgelegt. Erst 2009 hatte die Gruppe eine Simulation des Systems vorgestellt - knapp zwei Jahre später liegt bereits die erste Hardware vor.

Auch in Europa gibt es ein ganz ähnliches Vorhaben - Brainscales - bei dem die Neuronen mit Hilfe analoger elektronischer Schaltungen repräsentiert werden. Obwohl das Forschungsvorhaben bereits Anfang 2010 einen Chip mit rund 200000 künstlichen Neuronen vorlegen konnten, könnten die Amerikaner bei diesem Rennen jetzt in Führung gehen. Denn anders als die Europäer haben die US-Forscher auf rein digitale Schaltungen gesetzt, was ihnen ermöglichen könnte, die Parameter, und damit die Verhaltensweise der Neuronen, sehr viel schneller zu verändern.

„Stellen Sie sich zukünftige, kognitive Systeme vor, die Informationen aus der realen Welt verdauen können. Informationen, die unvollständig sind, uneindeutig, fehlerbehaftet. Trotzdem können die Systeme daraus koordinierte, kontextabhängige Aktionen in Echtzeit ableiten“, schwärmt Modha. „Wenn wir so etwas hätten, gäbe es unendlich viele Anwendungen dafür: Sie könnten die Ozeane der Welt mit vernetzten Sensoren versehen. Sie könnten damit genauso vor Tsunamis warnen, wie Fischereiflotten lenken. Oder stellen Sie sich den Handschuh eines Gemüsehändlers vor, der mit Sensoren ausgestattet ist, um Feuchtigkeit und Temperatur zu messen. Mit einer Berührung könnte man verdorbene Ware aufspüren.Wo, außer bei IBM kann man solch großen Träumen nachjagen?“ (wst)