Das vermessene Leben

Neue Geräte für den Hausgebrauch erfassen Körperdaten, Bewegung, Ruhezeiten und sogar die Stimmung. Sie könnten dabei helfen, Krankheiten besser zu verstehen und Therapien genauer auf die individuellen Bedürfnisse von Patienten abzustimmen – oder uns zumindest glücklicher und produktiver zu machen.

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Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Emily Singer
Inhaltsverzeichnis

Neue Geräte für den Hausgebrauch erfassen Körperdaten, Bewegung, Ruhezeiten und sogar die Stimmung. Sie könnten dabei helfen, Krankheiten besser zu verstehen und Therapien genauer auf die individuellen Bedürfnisse von Patienten abzustimmen – oder uns zumindest glücklicher und produktiver zu machen.

Ein ruhiger Mittwochabend in diesem April: In einer ehemaligen Garage in einer Studenten-Wohngegend von Boston hat sich eine interessante Gruppe versammelt. Die Teilnehmer sind zwischen 20 und 40 Jahre alt und haben ein gemeinsames Interesse: sich selbst. Bei monatlichen Treffen tauschen sie ihre neuesten Körperdaten aus und diskutieren, was sich daraus schließen lässt. Dieses Mal stammen die Messungen von einem einfachen Gerät namens Zeo, mit dem sich die eigenen Schlafdaten aufzeichnen lassen.

Die Bostoner Gruppe ist Teil einer schnell wachsenden Bewegung von Fitnessfreaks, Technikfans und chronisch Kranken, die eifrig, manche fast obsessiv, Daten ihrer Körperfunktionen erfassen und analysieren. Im Zentrum dieses Trends steht ein loser Zusammenschluss mit dem Namen "Quantified Self" – auf deutsch etwa "das gezählte Selbst". Seine Anhänger eint die Überzeugung, dass detaillierte Messwerte dabei helfen können, ein gesünderes und vernünftigeres Leben zu führen. Überall auf der Welt gibt es bereits Treffen wie das in Boston, wo die Selbstbeobachter darüber sprechen, wie sich Muster von Nahrungsmittelaufnahme, Schlaf, Müdigkeit, Stimmung oder Herzfrequenz aufzeichnen und – gegebenenfalls – optimieren lassen.

Das ist nichts völlig Neues. Unterstützt durch sportärztliche Technik behalten Spitzensportler seit Jahrzehnten sorgfältig ihre persönlichen Kennzahlen im Auge. Dasselbe tun Menschen mit chronischen Krankheiten wie Migräne, Diabetes oder Allergien, denn sie wollen herausfinden, wie sich ihre Gewohnheiten auf die Symptome auswirken. Mittlerweile aber sind Geräte für solche Zwecke im Handel, die praktisch jedem die genaue Selbstbeobachtung ermöglichen. Sie liefern Massen an Daten, die sich nach Mustern und Hinweisen durchsuchen lassen.

Der Zeo zum Beispiel kostet in den USA 199 Dollar und basiert auf Technologie, für deren Bedienung früher noch eigenes Fachpersonal gebraucht worden wäre. In seiner heutigen Form macht er es Nutzern denkbar einfach: Er besteht aus einem weichen Kopfband mit eingewebtem Sensor, der drahtlos die elektrische Aktivität des Gehirns in Form von EEG-Daten an ein Gerät am Rand des Bettes sendet. Ein daran gekoppelter programmierbarer Wecker klingelt dann nicht genau zum eingestellten Zeitpunkt, sondern in der nächsten darauf folgenden flachen Schlafphase. So fühlt sich der Benutzer beim Aufwachen viel ausgeschlafener, als wenn er in einer Tiefschlafphase aus Orpheus' Armen gerissen wird. Außerdem lassen sich die Daten jede Nacht auf einen Computer laden, sodass die Nutzer später analysieren können, welchen Einfluss Umweltfaktoren wie Wetter oder Lichtverhältnisse auf ihren Schlaf haben.

Sanjiv Shah zum Beispiel hatte seit Langem Schlafprobleme. Er gelangte zu der Überzeugung, dass er besser einschläft, wenn er vorher mehrere Stunden lang eine Brille mit orangen Gläsern trug. Um die Wirkung zu quantifizieren, nutzte Shah nicht nur den Zeo, sondern zusätzlich ein daumengroßes Gerät namens Fitbit, das mit einem Beschleunigungssensor seine Bewegungen im Bett erfasste. Ergänzt wurde das Equipment durch eine einfache Webkamera, die ihn einen Monat lang im Schlaf filmte. Das Ergebnis: Ohne Brille brauchte er zum Einschlafen durchschnittlich 28 Minuten, mit nur noch vier.

Das Experiment hat eine offensichtliche Schwäche: Shah weiß, wann er seine Brille trägt, und er glaubt an ihre Wirkung, also könnte ihr Erfolg auch einem Placebo-Effekt geschuldet sein. Laut Matt Bianchi, einem Neurologen, der bei dem Bostoner Treffen einen Vortrag hielt, gibt es noch keine umfassenden Studien, die eine Schlafverbesserung durch orangefarbige Brillengläser belegen würden. Ohnehin aber finden manche Tracking-Fans, dass ein wissenschaftlicher Beweis am Kern des Problems vorbeigehen würde: Shah hat seine getönte Brille eindeutig geholfen – und es sei doch viel besser, sich mit einer Plastikbrille für acht Dollar in den Schlaf zu helfen als mit Medikamenten. Gary Wolf, Journalist und Mitgründer von Quantified Self, formuliert es so: "Es sind letztlich medizinische Studien mit einem sehr wichtigen Teilnehmer: Sie selbst."

Am letzten Mai-Wochenende in diesem Jahr kamen im Computer History Museum im kalifornischen Technologiemekka Mountain View etwa 400 Menschen zur ersten Jahreskonferenz von Quantified Self zusammen. Versammelt waren dort Bastler, Programmierer, Entwickler, Techniker und Mediziner, zu sehen gab es Fitness-Messgeräte, Apps zur Datensammlung und -aufbereitung sowie aufklebbare Sensoren mit eingebauten Beschleunigungsmessern, die sich auf Zahnbürsten, Wasserflaschen oder Hundeleinen befestigen lassen, um so Bewegungen zu registrieren.