Private Zollschranken

Allen anders lautenden Bekundungen zum Trotz bereitet Europa Schritt für Schritt den Abschied von der Netzneutralität vor. Im Grunde ist die Angelegenheit längst entschieden. Unisono legen Politiker und Aufsichtsbehörden gegenüber den Netzbetreibern die gleiche Nachsicht an den Tag wie weiland gegenüber den Jongleuren der Finanzwelt.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 19 Kommentare lesen
Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Richard Sietmann
Inhaltsverzeichnis

Die Googles und Facebooks nutzen europäische Netze intensiv und erwirtschaften Traumrenditen“, klagt der Chef der Vodafone D2 GmbH, Friedrich Joussen, „ohne sich mit einem Cent an den Milliardeninvestitionen in die Qualität und Zukunft der Netze zu beteiligen.“ Eine gesetzlich verankerte Netzneutralität würde die kostenlose Verwendung der Telekommunikationsnetze festschreiben, der amerikanischen IT-Industrie nutzen und Europas starken TK-Unternehmen schaden, weil sie keinen Geldfluss von Inhalteanbietern wie Google oder Youtube zu den Netzinfrastrukturanbietern erlaube. „Europa investiert, Amerika kassiert“; das sei „strukturpolitisch nicht gesund.“

Mit dieser Begründung hat der Vodafone-Chef in die Debatte um die Netzneutralität die bizarre Forderung nach einem neuartigen Typus von Handelsschranken eingebracht – nach Einfuhrzöllen, die nicht wie weiland von Nationalstaaten zum Schutz der heimischen Wirtschaft kassiert werden, sondern nun von Infrastruktureigentümern zur Steigerung der Einnahmen erhoben werden sollen. Hoheitlich wie Landesfürsten wollen die Netzbetreiber über die Konnektivität der Breitbandnutzer walten und die Bedingungen festlegen, zu denen Inhalte-, Anwendungs- und Diensteanbieter durch die Access Networks hindurch Zugang zu den Endkunden erhalten.

Die Äußerungen des Vodafone-Managers spiegeln das Denken einer ganzen Branche wider (siehe dazu die Äußerungen der Chefs von Telekommunikationsfirmen). Während Netzaktivisten die Auseinandersetzungen noch in erster Linie als einen Kampf zur technischen Festschreibung der Best-Effort-Architektur des Internet verstehen, geht es den Betreibern in Wirklichkeit um einen Systembruch. Sie streben eine gänzlich neue Marktordnung an, die sie von den Fesseln der hergebrachten Telekommunikation befreit. Wie Spediteure, die über das Entgelt für die Transportleistung hinaus auch am Wert der Ladung beteiligt sein wollen, schielen sie auf Einspeisegebühren, die von den Inhalte- und Dienstanbietern erhoben werden sollen. Wer zahlt, gelangt zum Endkunden; wer sich verweigert, wird ausgebremst oder gänzlich ausgeschlossen.

Der klassische Anspruch der Telekommunikation – jede/r kann sich mit jedem/r verbinden –, die universale Konnektivität, wie sie in der Telefonie seit jeher üblich und auch im Internet bisher faktisch gegeben ist, geht dabei über Bord. Es wäre ein veritabler Rückschritt, wenn die Netzbetreiber künftig frei entscheiden könnten, wen sie zu welchen Bedingungen durchleiten und wen nicht. Doch ernsthaften Widerstand hat die Branche offenbar nicht zu erwarten; die Regulierungspolitik scheint eher auf Abwarten und das Hinhalten der kleinen Schar von Protestlern programmiert zu sein.

Die Erklärung, die der für die Telekommunikation zuständige EU-Ministerrat Mitte Dezember 2011 als Handreichung für das weitere Vorgehen der Brüsseler Kommission verabschiedete, unterstreicht zwar die Notwendigkeit, den „offenen und neutralen Charakter“ des Internet zu erhalten, weil die Offenheit Innovationen fördere, indem sie „gleiche Bedingungen für alle Beteiligten“ schaffe. Doch anschließend wird dieses Ziel derart weichgespült, dass es kaum noch erkennbar ist. Dass die Einführung zweiseitiger Märkte dem Ziel gleicher Bedingungen für alle Beteiligten widerspricht und die Netzneutralität prinzipiell aufhebt, lässt sich die Ländervertretung unter den EU-Organen nicht weiter ein. Stattdessen ist in der fünfseitigen Entschließung nur verschleiernd von „innovativen Geschäftsmodellen“ die Rede, denen ermöglicht werden solle, „die Anforderungen des Marktes zu erfüllen“.

Nicht anders verhält sich die Bundesregierung, die den Systembruch in der seit Mai 2011 überfälligen und von Brüssel bereits angemahnten Novellierung des Telekommunikationsgesetzes (TKG) weitestgehend ausgeblendet hat. Für „telefonnahe Dienste“ enthält das TKG immerhin noch einen Anspruch auf uneingeschränkte Konnektivität über das Zugangsnetz in Gestalt von Anordnungen zur Netzzusammenschaltung und der Auferlegung von Zugangsverpflichtungen „zur Gewährleistung des End-zu-End-Verbunds von Diensten“. Die Ausweitung dieses Anspruchs auf das Breitband-Netz und die universale Konnektivität in allen angebotenen Dienstgüteklassen ist in der Novelle jedoch kein Thema.

Die schwarzgelbe Koalition wollte entsprechend ihrer Koalitionsvereinbarung die Netzneutralität erst gar nicht regeln; nun soll nach § 41a TKG-E die Bundesregierung eine Verordnung erlassen können, die eine „willkürliche Verschlechterung von Diensten“ untersagt. Das klingt auf den ersten Blick gut, ist aber Augenwischerei und windet sich um den wunden Punkt herum. „Pay for Priority“-Verträge mit Inhalteanbietern sind ja keine „willkürliche Verschlechterung“ bestehender Dienste, führen aber dazu, dass künftig in den schnelleren Zugangsnetzen andere Konnektivitätsregeln gelten: Sich den italienischen Lieblingssender ruckel- und aussetzerfrei auf das TV-Gerät zu streamen gelingt dann nur, wenn dieser sich mit dem Zugangsnetzbetreiber seines deutschen Fans über den Einfuhrzoll geeinigt hat.

Die Tendenz ist offensichtlich: Das Abwarten und Hinhalten überlässt den großen Playern das Spielfeld und gleichzeitig die Gestaltung der Spielregeln, damit sie ein neues Verständnis von TK-Netzbetreiber durchsetzen können: Das sind nicht mehr diejenigen, die Konnektivität zu allen anderen Endhosts herstellen, sondern als „Netzbetreiber“ darf sich künftig jeder Schrankenwärter auf den Nervenbahnen der Informationsgesellschaft bezeichnen.

Nirgendwo wird das zurzeit deutlicher als in dem jüngst veröffentlichten Positionspapier zur Netzneutralität, mit dem die britische Regulierungsbehörde Ofcom sich zum Meinungsführer unter den europäischen Regulierern aufschwingt, noch bevor deren offizielles Gremium BEREC die von der EU-Kommission angeforderte Stellungnahme abgeliefert hat. „Ofcom’s Approach to Net Neutrality“ transportiert auf fast 40 Seiten nur eine Botschaft, nämlich die Dinge laufen zu lassen. „Wir haben“, heißt es darin, „keine allgemeinen Einwände gegen Wettbewerbsmodelle, in denen vertikal integrierte Betreiber keinen offenen Zugang zu ihren Netzen anbieten, solange es echten Wettbewerb und Konkurrenz unter den Firmen gibt.“

Was der Report nicht ausspricht, sind die Konsequenzen dieser Art von Wettbewerb. Wenn verschiedene Betreiber die Konnektivität zu den Dienst- und Inhalteanbietern unterschiedlich handhaben, können die User nicht mehr davon ausgehen, dass sie die weltweit verfügbaren Angebote frei wählen und über einen einzigen Zugangsnetzbetreiber erschließen können.

Auch die absehbaren strukturellen Folgen zweiseitiger Märkte bagatellisiert die britische TK-Aufsichtsbehörde. Zweiseitige Märkte werden unter anderem von Systemen und Plattformen (z. B. Breitbandnetze) gebildet, die von Unternehmen betrieben werden und auf denen wiederum zwei verschiedene Nutzergruppen (z. B. Netz-Nutzer und Online-Anbieter) aufeinandertreffen.

Die Gefahr liegt bei einem zweiseitigen Markt wie dem Breitbandnetz in der fundamentalen Wettbewerbsverzerrung: Weil mit der Zahl der Endkundenanschlüsse die Verhandlungsmacht gegenüber Anbietern wie Google, Facebook oder TV-Sendern steigt, können große Zugangsnetzbetreiber höhere Einspeiseentgelte von den Anbietern herausschlagen. Zudem können sie dann neben attraktiveren Inhalten auch noch niedrigere Endkundentarife offerieren und mit Dumping-Angeboten die Konkurrenz ausschalten. In solch einem Wettbewerb bleiben kleine, regionale Betreiber –auf denen derzeit noch die Hoffnungen des Glasfaserausbaus ruhen – auf der Strecke. Ofcom tut diese Aussicht gleichwohl als Problem ab, das Inhalteanbieter, Netzbetreiber und Konsumenten unter sich aushandeln können.

Eine Ausnahmesituation räumt der britische Regulierer lediglich ein, wo Inhalte und Dienste im öffentlichen Interesse angeboten werden. In diesen Fällen verweist Ofcom auf das Beispiel der sogenannten „must carry“-Verpflichtungen des Kabelfernsehens gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ob solche Verpflichtungen generell für Breitbandnetze eingeführt werden sollten, sei aber „eine politische Angelegenheit, die die Regierung zu entscheiden hat“.

Dass die Konnektivität ein bürgerliches Grundrecht in der Informationsgesellschaft sein könnte und das Problem der Netzneutralität ebenfalls „eine politische Angelegenheit, die die Regierung zu entscheiden hat“, zu dieser Empfehlung hat sich Ofcom offenbar nicht durchringen wollen. Stattdessen wirkt die britische Argumentationsvorlage zur Entscheidungsfindung in Europa wie aus der Finanzmarkt-Regulierung abgeschrieben – der Staat ist nur für die Nachsorge zuständig, alles andere wird dem unfehlbaren Wirken der Märkte anheimgestellt.


César Alierta (CEO Telefónica), Süddeutsche Zeitung, 10. 2. 2010


Ed Whitacre (Ex-CEO SBC/AT&T), BusinessWeek, 7. 11. 2005


René Obermann (CEO Deutsche Telekom), Zeit Online, 18. 11. 2010


Friedrich Joussen (CEO Vodafone D2 GmbH), Handelsblatt Online, 6. 12. 2011


Hannes Ametsreiter (CEO Telekom Austria), Wall Street Journal, 24.2.2011