Der kreative Kick

Der Fotograf Jochen Blume erzählte seinerzeit gerne, wie er sogar bei bedeutenden Anlässen mit Willy Brandt oder John F. Kennedy als Motiv nur wenige Negative zur Verfügung hatte: Drei Auslöser für epochemachende Ereignisse, das musste reichen.

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Der Fotograf Jochen Blume erzählte seinerzeit in Seminaren gerne, wie er sogar bei bedeutenden Anlässen mit Willy Brandt oder John F. Kennedy als Motiv nur wenige Negative zur Verfügung hatte: Drei Auslöser für epochemachende Ereignisse, das musste reichen. Trotzdem entstanden bei diesen Gelegenheiten Bilder, die Geschichte geschrieben haben und die heute jeder kennt.

Das ist nicht mehr vorstellbar. Man hält einfach auf alles drauf, was sich bewegt: "Pic or it didn’t happen". In Istanbul beobachtete ich neulich einen Touristen, der die Kamera im Gehen links und rechts auf die Häuserfront richtete und in einem fort abdrückte. Er blieb nicht stehen, sah nicht hin, achtete nicht aufs Motiv, verschwendete keinen Gedanken auf die Komposition. Das Material hätte allenfalls für die Auswertung von Google Street View getaugt, wenn es überhaupt scharf war.

Die beiden Beispiele liegen 50 Jahre auseinander und illustrieren den veränderten Zeitgeist. Früher war Material teuer und musste bedacht eingesetzt werden. Jetzt ist ein Digitalfoto kostenlos zu haben. Einem Bild von John F. Kennedys Berlinbesuch damals stehen 150 Bilder vom Stadtspaziergang heute gegenüber.

Das hat fundamentale Konsequenzen. Fotografie ist ein schöpferischer Prozess, der die kreative, emotionale, impulsive Seite im Menschen herausfordert. Diese Seite ist einzig entscheidend in der Kennedy-Situation: Der Fotograf hat nur eine Chance, ist hoch konzentriert, voll bei der Sache, wählt Standort, Blende, Brennweite, Bildausschnitt genau aus und wartet auf den entscheidenden Moment. Dann weiß er aber auch, dass er ein gutes Foto gemacht hat.

Beim Fotografieren des alten Istanbuler Diplomatenviertels wird der gedankenlos daherknipsende Spaziergänger kaum denselben kreativen Kick verspürt haben. Beim späteren Sichten seiner Unmengen von Digitalfotos setzt er dafür Fähigkeiten ein, die der Fotograf, der nur ein Foto macht, überhaupt nicht braucht. Zu Hause am Rechner kommt die analytische und rationale Komponente zum Tragen.

Das Experiment, bei einem Fotospaziergang nur maximal dreimal auszulösen, kann sehr lehrreich sein und die Qualität der eigenen Aufnahmen verbessern helfen. An der heutigen Realität geht es aber vorbei. Warum sollte man auch weniger knipsen? Fotografieren macht Spaß. Im Themenschwerpunkt dieses Hefts geht es daher um die immer wichtiger werdende Analyse am heimischen Schreibtisch, ums Sichten und Bewerten großer Bildersammlungen und schließlich auch darum, wie man die besten Fotos auf mobilen Geräten zur Ansicht bringt.

Auch wenn keine Materialknappheit mehr herrscht, kann es aber nicht schaden, von Größen wie Jochen Blume zu lernen. Legen Sie sich auf die Lauer und warten Sie auf den einen entscheidenden Fünf-Sterne-Schuss. Jedes Bild könnte das Meisterwerk sein. Man muss es am Ende nur finden, aber dabei hilft ja die Software. (akr)