Neue Macht des Internets in China: "Gestern Gerücht, heute Wahrheit"

Ohne das Internet wäre der Politkrimi in Chinas Parteispitze niemals so detailliert zutage getreten. Eine wichtige Rolle spielen die twitterähnlichen "Weibo". Die KP zensiert die sozialen Medien nicht nur – sie benutzt sie auch für ihre Zwecke.

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Von
  • Andreas Landwehr
  • dpa

Nie zuvor ist ein Skandal in China so breit und offen im Internet ausgerollt worden: Der Sturz des Spitzenpolitikers Bo Xilai und der "dringende Mordverdacht" gegen seine Frau Gu Kailai haben in der rasanten Entwicklung der "Weibo" genannten, twitterähnlichen Kurzmitteilungsdienste in China ein neues Kapitel aufgeschlagen. "Es hat in der chinesischen Geschichte noch nie einen Moment gegeben, wo es einen so großen und einflussreichen öffentlichen Raum gegeben hat", sagt der Internet-Experte und Sprecher der größten chinesischen Suchmaschine Baidu, Kaiser Kuo, über die Mikroblogs. "Es treibt den kompletten nationalen Dialog."

Mehr als 500 Millionen Chinesen sind im Internet unterwegs. Davon nutzen mehr als 300 Millionen solche Kurzmitteilungsdienste. Plötzlich gibt es in China eine öffentliche Meinung: Jeden Tag strömen 200 Millionen Beiträge durch die "Weibo". Anders als in den 140 Zeichen kurzen Twitter-Botschaften lässt sich mit chinesischen Schriftzeichen drei bis sechsmal so viel schreiben. Diskussionen sind auch leichter zu verfolgen. Während die "Große Firewall" ausländische soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder YouTube sperrt, haben die "Weibo" trotz aller Zensur eine verblüffende Dynamik entwickelt.

"Es ist ein unglaublich freier Raum für Diskussionen", sagt der Experte Jeremy Goldkorn, dessen Webseite das chinesische Internet verfolgt. "Auf der einen Seite gibt es zwar Beschränkungen, aber auf der anderen herrscht fast Chaos." Viele Informationen in dem Krimi um Bo Xilai, der den sorgfältig geplanten Generationswechsel in der Führung der Kommunistischen Partei durcheinanderbringt, waren erst in den "Weibo" zu lesen, bevor sie offiziell bestätigt wurden.

So berichteten "Internetbürger" (Wangmin) von der Flucht des Polizeichefs von Chongqing, Wang Lijun, ins US-Konsulat im benachbarten Chengdu, wo er auspackte und den Skandal ins Rollen brachte. Ähnlich war von der Entlassung des charismatischen Politbüromitglieds Bo Xilai zu lesen, bevor der Sturz offiziell verkündet wurde. Auch der Verdacht, dass seine Frau hinter dem Mord an dem britischen Unternehmensberater Neil Heywood, einem Freund der Familie, stecken soll, zirkulierte erst in den "Weibo".

Die Gerüchte entpuppten sich alle als wahr. Wohl nicht zufällig, weil solche Informationen zuerst in der Macht-Elite der Partei zirkulieren, bevor das gemeine Volk unterrichtet wird. Der bekannte chinesische Blogger Michael Anti sieht sogar gezielte Indiskretionen. "Alles ist von offizieller Seite gestreut." Aus seiner Sicht zensiert die kommunistische Führung das Internet nicht nur, sondern benutzt es vielmehr, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen – in diesem Fall, um einen populistischen und unter linken Parteikräften beliebten Politiker auch öffentlich zu Fall zu bringen.

"Die Regierung macht sich die sozialen Medien als zentrale Medien zunutze", sagt Anti. "Wenn es mal ein Fenster der Meinungsfreiheit gibt, dann ist das Absicht", verweist Anti auf den Polit-Thriller um Bo Xilai und das Zugunglück in Wenzhou vor einem Jahr, als Korruption im Bahnministerium angeprangert wurde. Die Behörden nutzen die Mikroblogs auch als Propagandawerkzeug, verbreiten Informationen über eigene "Weibo"-Konten. Sie lenken Debatten mit falschen Beiträgen oder heuern dafür sogar Firmen an, die ihre Dienste offen anbieten.

Die Online-Reaktionen reflektieren sofort, wie das Volk denkt und fühlt. Will jemand über "Weibo" einen Protest organisieren, ist die Polizei vorgewarnt und schon vor Ort, wenn die Demonstranten kommen. So glaubt auch niemand, dass die "Weibo" wieder abgeschafft werden könnten. "Undenkbar. Die Leute würden in der Straße randalieren", sagt Kaiser Kuo. "Den Funktionären ist es auch lieber, wenn die Leute im Internet schimpfen, als wenn sie es vor ihrem Fenster tun."

Blogger Anti stimmt zu: "Die Mikroblogs sind das Schlachtfeld der öffentlichen Meinung – anstatt sie zu schließen, denkt sich die Regierung: "Besetzen" wir sie lieber." Eine alte Strategie: "Wen ich nicht schlagen kann, dem schließe ich mich an." Manchmal geht es aber auch zu weit: Nach den wilden Gerüchten über einen angeblichen Putsch und einen Machtkampf in Peking beschränkten die Behörden die Debatten in den "Weibo" für drei Tage. 210.000 Beiträge wurden gelöscht, sechs Personen festgenommen. Während ein Funktionär die Gerüchte mit "bösartigen Tumoren" verglich, entgegnete ein Blogger: "Das Gerücht von gestern ist die Wahrheit von heute." (anw)