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Der dringend erforderliche Ausbau der Stromnetze droht an unübersehbaren Risiken zu scheitern. Und die Bundesregierung kann nicht eingreifen, solange ihr die Netze nicht gehören.

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Von
  • Manfred Pietschmann

Der dringend erforderliche Ausbau der Stromnetze droht an unübersehbaren Risiken zu scheitern. Und die Bundesregierung kann nicht eingreifen, solange ihr die Netze nicht gehören.

Am 4. April dieses Jahres sah alles nach einer reichen Energieernte aus. Der von Russland kommende Tiefdruckwirbel "Ellen" verdrängte das Hoch "Harry", das bis dato das Wetter in Deutschland bestimmt hatte. Bis abends schwoll der Wind in Ostdeutschland mächtig an – mehr, als dem ostdeutschen Netzbetreiber 50Hertz recht sein konnte. Dessen Höchstspannungsnetz musste ad hoc eine Windstromleistung von 8000 Megawatt (MW) verdauen, so viel wie von einem halben Dutzend Atomkraftwerken. Als dann auch noch eine Leitungstrasse ausfiel, die einen Teil des Stroms nach Westen hätte ableiten können, war Schluss mit lustig: Hunderte von Windrädern mussten vom Netz genommen werden, um das Transportnetz nicht zu überlasten.

Insgesamt wurde in jener Nacht eine Windkraftleistung von 2200 MW abgeklemmt, mehr als jemals zuvor. Doch das ist vielleicht erst der Anfang. Wenn als wichtigster Beitrag für die Energiewende nach den Plänen der Bundesregierung bis 2020 in Nord- und Ostsee Offshore-Windparks mit einer Nennleistung von 10000 MW errichtet werden, dürften Engpässe und Leerlauf sich zum Regelfall entwickeln. Es sei denn, die Kapazität des Überlandnetzes wird ausgebaut, damit der Windstrom von der See zu den süddeutschen Verbrauchern transportiert werden kann. Doch danach sieht es im Moment nicht aus.

Der Investitionsstau bei der Netz-Infrastruktur droht die Energiewende auszubremsen. Bislang ist erst ein einziger kommerzieller Offshore-Windpark in der Nordsee mit 200 MW Leistung am Netz. Das gute Dutzend weiterer, bereits genehmigter Parks kann erst in Betrieb gehen, wenn das aufnehmende Stromnetz in vollem Umfang funktioniert.

Und dafür ist nach dem Gesetz der Netzbetreiber zuständig, im Fall der Nordsee-Windparks die Tennet TSO GmbH aus Bayreuth. Die Firma, ein niederländisches Staatsunternehmen, hatte Anfang 2010 das Überlandstromnetz vom Energieversorger E.on erworben, 10700 Kilometer Höchstspannungsleitungen von der dänischen Grenze bis zu den Alpen, insgesamt 40 Prozent des bundesdeutschen Transportnetzes. Auch Vattenfall und RWE mussten sich gemäß der EU-Verordnung zur Trennung von Energieproduktion und Netzbetrieb von ihren Netzen trennen und verkauften an private Investoren.

Nun verkündet Tennet, dass es sich nicht in der Lage sieht, den Investitionsbedarf von 15 Milliarden Euro zu stem-men. Schon im November 2011 hat das Unternehmen in einem Schreiben an die Bundesregierung dringende Bedenken angemeldet – wegen gravierender ungeklärter Haftungsfragen, die den Netzausbau zu einem unkalkulierbaren Abenteuer machten: Führen Unwägbarkeiten in den Genehmigungsverfahren nämlich zu einer Verspätung der Anschlüsse, muss allein der Netzbetreiber für die Einnahmeeinbußen bei den Windparks aufkommen. Tennets Vorschlag: eine Art Teilkaskoversicherung mit beschränkter Haftung des Netzbetreibers. Doch angesichts der Höhe des Risikos winkt die Versicherungswirtschaft ab. Nun hat Tennet in voller Fahrt den Rückwärtsgang ein-gelegt, was diverse Politiker der Firma als Erpressung auslegen.

So groß die Neigung auch sein mag, Tennet, das sich an dem E.on-Netz finanziell verschluckt hat, jetzt scheitern zu lassen: Das Nachsehen könnten die bereits genehmigten Nordsee-Windparks haben, deren Anschlusstermin sich auf ungewisse Zeit verschiebt. Eine vom Bundeswirtschaftsminister eingesetzte Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern der Netzbetreiber, der Offshore- und Versicherungsbranche sowie Ministeriumsmitarbeitern, präsentierte eine dürftige Lösung. Sie besteht darin, "den Ausgleich möglicher Schäden, die trotz technischer und organisatorischer Vorkehrungen nicht wirtschaftlich versicherbar sind, zu sozialisieren" – im Klartext eine Offshore-Anbindungsumlage, zu zahlen von den Stromkunden.

Dieses Vorgehen soll die Risiken auf die Allgemeinheit abwälzen, ohne aber das Eigentum an den Netzen und das operative Verfügungsrecht über sie anzutasten. Das ist aus Sicht privater Investoren verständlich, aber auch typisch: Der komplette Umbau der Energiewirtschaft – und darauf läuft die Energiewende hinaus – ist wirklich "new business" mit einer Vielzahl neuer Risiken, die alle Beteiligten offenkundig grob unterschätzt haben.

Das muss nun auch die Bundesregierung einsehen, die nach Fukushima die Energiewende verkündete, lästige Details aber den freien Kräften des Marktes überließ. Dieser Fehler verlangt schleunigst nach Abhilfe – die Stromnetze gehören schließlich zu den wichtigsten Lebensadern unserer Volkswirtschaft. Auf ihren Betrieb, ihren Ausbau und ihre Sicherheit muss der Staat Einfluss nehmen können, im Interesse der ganzen Gesellschaft. Statt vier private Betreiberfirmen sollte eine einheitliche, unabhängige Gesellschaft die operative Verantwortung für die Netze tragen. Ganz so, wie es im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Regierung steht.

Und in dieser Gesellschaft sollte der Staat die Eigentümermehrheit stellen. Wem das zu sehr nach Verstaatlichung schmeckt, der kann einen Blick über die Grenze werfen. Nach diesem Modell arbeiten Frankreich mit seiner "Réseau de transport d'électricité" und Österreich mit seiner "Austrian Power Grid AG", Norwegen mit Statnett und Finnland mit Fingrid. Die Chance für die Bundesregierung, jetzt bei Tennet einzusteigen, wo das Unternehmen Unterstützung braucht, stehen gut. Vielleicht sind auch die anderen Netzbetreiber zu einer Übergabe von Verantwortung bereit. (mpi)