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Was war. Was wird.

Superkalifragilistischexpialigetisch. Genau. Gaga können wir selbst. Und Verfassungsgerichte? Manche scheinen deren Entscheidungen für zu ignorierende Meinungsäußerungen zu halten, grummelt Hal Faber.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

Jetzt ist es also passiert. Die im Forum diskutierte Privilegienmuschi hat es in die tageszeitung der ach so alternativgrünen Besitzstandsbewahrer gebracht, während das Pornomagazin Privilege Pussy längst in Vergessenheit geraten ist. Da bleibt mir nur noch übrig, den großen Gewerkschafter Nicholas Klein zu zitieren: "And, my friends, in this story you have a history of this entire movement. First they ignore you. Then they ridicule you. And then they attack you and want to burn you. And then they build monuments to you. And that, is what is going to happen to the Amalgamated Clothing Workers of America." Jetzt werden also die Monumente gebaut und die Pirat Gandhi lacht. Einen privilegierten Witz über die Frauenzone schenke ich mir, er ist so or-binär.

*** Bekanntlich ist Superkalifragilistischexpialigetisch, in der Wikipedia mit der Ordnungsnummer 137 zwischen Fontanes Summa Summarum und dem süßen wie ehrenvollen Sterben eingeordnet, aus dem englischen supercalifragilisticexpialidocious entstanden, das wiederum auf supercaliflawjalisticexpialadoshus zurückgehen soll. Die Übersetzung "Für Erziehbarkeit durch heikle Schönheit büßen" legt nahe, dass es sich um irgendwelchen Schweinskrams handeln könnte, doch soll das Wort angeblich eine Reaktion auf das damals längste englische Wort "Antidisestablishmentarianism", womit wir schon wieder inhaltlich bei den Piraten wären. Was die Länge der deutschen Worte anbelangt, so gibt es bekanntlich gerade im Web ganz andere Kaliber wie den emergenten Kontrollverlustschutzfiltersouveranitätsbeauftragten.

*** Das erwähnte Blatt der Besitzsstandsbewahrer merkt pikiert an, dass Deutschland ein Zwangsgeld in Millionenhöhe droht, weil es vorerst keine Datenspeicherung gibt und ein garstiger Showdown mit Brüssel droht. Hübsche Summen machen die Runde, die taz kommt auf 32,5 Millionen, der AK Vorrat nach diesem Bericht gar auf 70 Millionen, was die Forderung nach einen Rücktritt von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger unterstreichen soll. Welche Aufmüpfigkeit erdreistet sich das deutsche Justizministerium da? Doch halt, selbst das Heimatland von Kommissarin Cecilia Malmström hat die Vorratsdatenspeicherung nicht umgesetzt und müsste deswegen eigentlich 15 Millionen Euro pro Jahr zahlen. Im Mai soll dort der Bürger unter Dauerbeobachtung gesetzt werden, doch hat das Land bis jetzt keine einzige Krone Strafe gezahlt. Niemand regt sich dermaßen über die 46,5 Millionen Euro auf, die beim VW-Gesetz fällig werden. Der Gipfel der Heuchelei ist dann erreicht, wenn aus dem Patt die Rücktrittsforderung abgeleitet wird. Der Rochaden-Logik nach wäre dann auch Innenminister Friedrich dabei, weil die Forderungen aus seinem Haus die Vorgaben der Verfassungrichter hartnäckig ignorieren. Wie sagte es nochmal Gandhi? "Folkets längtan efter frihet kan i det långa loppet inte slås ner. Den kommer att leva och segra till sist." Ach, das war Olof Palme über den Ruf nach Freiheit, der nicht unterdrückt werden kann und der am Ende gewinnt? Dieses Zitat findet sich bei der Bahnhof-Tochter Anonine, wo gegen Vorratsdaten auch Verdacht getunnelt wird. Das packen wir gleich mal auf Wiedervorlage, lieber eco.

*** Alles, was Cyber ist, verursacht immensen wirtschaftlichen Schaden, wenn es bei den falschen Verwertern landet. Tapfer, doch anscheinend aussichtlos kämpft die NATO gegen eine Flut von Cyberattacken. Auch an der Heimatfront ist die Lage angespannt. Das sollten vor allem Unternehmen beherzigen, die nach dem Willen des erwähnten Innenministers flugs mittuen müssen beim Cyber-Abwehrzentrum. Wenn sie nicht spuren, die Hidden Campions, werden sie zwangsverpflichtet zur täglichen Meldung von der Cyberfront. Dass bei den so gern bemühten Mittelständlern die Mitarbeiter das größte Cyber-Risiko sind, ist offenbar kein Problem, wenn alles zentralisiert ist bei der Abwehr. Wo ein von der Bundesregierung gesteuertes Abwehrzentrum agiert, winken natürlich dicke Aufträge für die Abwehrprofis und so wundert es niemanden, wenn der Luftfahrts- und Rüstungskonzern EADS Cassidian den Aufbau einer Cybersecuritysparte verkündet, die zunächst in Deutschland, Großbritannien und Frankreich abwehren helfen soll, mit einem Umsatz von 500 Millionen. Nahezu ausgeschlossen ist es, dass bei diesen Summen Menschen mit Verstand den Zirkus betreten und wie hier im Fall der Virenangriffe erkennen, dass der Kaiser nackt ist in dem Sicherheitstheater.

*** Noch etwas ist passiert: Mit dieser Erklärung hat sich die Piratenpartei von einer seltsamen Holocaustdebatte gelöst, was Julian Assange bei seiner TV-Show schon in der ersten Folge nicht gelang. Da hörten wir vom Hizbollah-Chef, dass die Juden den Holocaust übertreiben. In der neuesten Folge der Show wurde auch das noch getoppt in einer "Diskussion", in der der Kopf von Wikileaks keine gescheite Frage stellte. So lernen wir diesmal, dass die Palästinenser Nazis sind, Barack Obama ein Kommunist (beides David Horowitz) und ein Vertreter eines Sozialismus mit menschlichem Anlitz die niederste Stufe des Lebens darstellt und lebensunwert ist wie ein Frosch (Slavoj Zizek). Dazu kommen von beiden "Diskutanten" Stalin- und Gulag-Witze, die wohl im russischen TV ankommen. Anderes ist dieser Klamauk namens "Die Welt von morgen" nicht zu erklären, der Ekel hinterläßt. Da fehlt nur der Kommentar der maoistischen Nachrichten und bereitet uns bestens auf den Kampftag der Arbeiterklasse vor.

Was wird.

Vor 25 Jahren wurde in Berlin-Kreuzberg aus einem Straßenfest am Lausitzer Platz etwas, das heute als Kiezaufstand bezeichnet wird. Die Straßenschlacht mitsamt der Plünderung eines Supermarktes ist seitdem zum Schaulaufen der autonomen Linken in Konkurrenz zu den etablierten Mai-Kundgebungen zum "Tag der Arbeit" der Gewerkschaften geworden. Die Eskalation zu dem, was dann die Kreuzberger Krawalle wurden, begann mit einer Polizeiaktion gegen das Organisationsbüro des Aktionsbündnisses gegen die Volkszählung, aus der die autonome Szene ihre Entrüstung bezog. So fing alles an. Am Dienstag werden 15.000 Demonstranten zu einem bunten Kulturprogramm in Berlin erwartet, das mit einer antikapitalistischen Walpurgnisnacht im Wedding beginnen soll. Aus dem britischen Slogan "Reclaim da streets" ist nicht die Aufforderung übersetzt, die Straßen zurückzuerobern, sondern ein seltsames "Nimm, was dir zusteht!". Wie war das noch vor 25 Jahren? Nimm, was dir steht!.

Gleich nach den Maifeierlichkeiten geht es in Berlin noch radikaler zur Sache: "Act!ion" ist angesagt, doch was nachgerade anarchistisch klingt, ist nicht so gemeint. Wenn 4000 Blogger, Social Media-Aktivisten und -Pick^H^H^H -Berater zusammentreffen, wird geredet und nicht randaliert. Die re:publica 2012 mit 350 Sprechern ist Deutschlands "größte Konferenz über Blogs, soziale Medien und die digitale Gesellschaft " geworden und beweist, wie man aus einem Camp ein finanziell ordentlich florierendes Gewebe macht. Vom Kampf auf den Strassen zum Kampf um die Steckdosen verschieben sich die Akzente. Wenn schließlich Merkels Regierungssprecher sich generös auf offener Bühne zum Interview stellt, bleibt nur zu hoffen, dass kritische Fragen gestellt werden im Dialog über Deutschland, die Ukraine und die Welt. (jk)