Vorratsspeicherung von TK-Daten: "Privatsphäre wird zum Luxusgut"

Branchenverbände, Datenschützer, zivilgesellschaftliche Organisationen sowie linksliberale Politiker reagieren voller Empörung auf den Beschluss des EU-Parlaments zur massiven Ausdehnung der Telekommunikationsüberwachung.

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Branchenverbände, Datenschützer, zivilgesellschaftliche Organisationen sowie linksliberale Politiker haben voller Empörung und Sorge auf den heutigen Beschluss des EU-Parlaments zur massiven Ausdehnung der Telekommunikationsüberwachung reagiert. "Was als präventive Terrorismusbekämpfung beschlossen wurde, ist nichts anderes als die Bekämpfung der freien Kommunikation", beklagt Thilo Weichert, Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein. Mit dem Entscheid "wird aus unserer freiheitlichen eine überwachte Informationsgesellschaft". Die neue europäische Bespitzelung ziele direkt auf die Köpfe der Menschen: "Jeder soll und muss wissen, dass jeder Kontakt per Telefon, Fax, Mobilfunk, SMS oder E-Mail, jede Nutzung des Internet langfristig gespeichert wird" und die Sicherheitsbehörden darauf zugreifen könnten. Das Telekommunikationsgeheimnis werde zur "disponiblen Masse". Die Parlamentarier hätten ein Papier abgenickt, das eine "Kapitulation der Freiheitsrechte vor vermeintlichen Sicherheitsbelangen darstellt".

Die Abgeordneten haben mit der Mehrheit von Christ- und Sozialdemokraten eine EU-Richtlinie mit einer Reihe von Änderungen abgesegnet, auf die sich die Spitzen der "großen Koalition" in Brüssel mit dem EU-Rat geeinigt hatten. Da die Minister den Plan bereits gebilligt haben, dürften sie das vom Parlament bestätigte Papier auf einer ihrer letzten Ratssitzungen im Dezember ohne Diskussion durchwinken. Die Mitgliedsstaaten müssen die Vorgaben, die eine Aufzeichnung der elektronischen Spuren der Bürger für einen Zeitraum zwischen sechs und 24 Monaten vorsehen, dann innerhalb von 18 Monaten in nationales Recht umsetzen. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries will sich dabei für die Mindestspeicherfrist stark machen, während Innenminister von Bund und Ländern zwölf Monate bevorzugen. Prinzipiell geht es bei der beschlossenen Überwachung um die Speicherung der Verbindungs- und Standortdaten, die beim Telefonieren, SMS, E-Mailen, Surfen oder Filesharing anfallen. Mit Hilfe der Datenberge sollen Profile vom Kommunikationsverhalten und von den Bewegungen Verdächtiger erstellt werden.

Scharfe Töne schlägt Michael Rotert, Vorstandsvorsitzender des Verbands der deutschen Internetwirtschaft eco, angesichts des Votums an. "Mit der Begründung, Terroristen zu jagen, speichert man jetzt nutzlose Daten auf Kosten der Industrie, wo doch die bestehenden Regelungen nach Aussagen der Polizei bereits für 90 Prozent der Fälle ausgereicht haben", wettert der Providervertreter. Er stellt sich bereits vor, wie der erste Zugangsanbieter seine Daten "auf Anforderung ausgedruckt per Möbelwagen anliefert". Die Behörden hätten schließlich weder Rechner noch Leitungen, um auch nur einen Bruchteil des geforderten Bitverkehrs abwickeln zu können. George Orwells Visionen eines "1984" hält Rotert für einen "Stummfilm" im Vergleich zu den jetzt abgesegneten Überwachungsplänen, durch welche ganz Europa durch eine "Sammelwut ähnlich der Stasi vereint" werde.

Die europäischen Dachverbände EuroISPA, GSM Europe, ECCA, ECTA und ETNO konstatieren enttäuscht, dass die beschlossene Linie der europäischen Kommunikationsindustrie "eine signifikante Bürde" auferlege. Die größten E-Mail-Provider säßen aber in den USA, sodass Kriminelle die Regeln leicht umgehen könnten. Die Vereinigungen sehen die Wettbewerbskraft der europäischen Anbieter geschwächt, zumal die Richtlinie den Mitgliedstaaten zahlreiche Adaptionsmöglichkeiten biete und die Binnenmarktharmonisierung unterlaufen werde. Da die Entscheidung über eine Kostenerstattung den Regierungen vorbehalten bleibe, müssten diese letztlich nicht einmal die Proportionalität bei ihren Anforderungen wahren.

Laute Kritik übt auch Bitkom-Geschäftsführer Bernhard Rohleder: "Das Parlament hat die Chance vertan, seine eigenständige Bedeutung neben dem Ministerrat bei der Gesetzgebung mit Leben zu füllen", wittert er "Erpressung" in Brüssel. Der Lobbyist appelliert an die Bundesregierung, "die Unternehmen in Deutschland für die Speicherung in vollem Umfang zu entschädigen". Proteste hagelt es ferner vom Förderverein für eine freie informationelle Infrastruktur (FFII): "Von heute an werden alle EU-Bürger wie gemeine Kriminelle behandelt", erklärte dessen Präsident Pieter Hintjens. Vorstandsmitglied Harmut Pilch fügte an, dass der Gesetzgebungsprozess in Brüssel künftig noch frühzeitiger ernsthaft begleitet werden müsse. Dies gelte insbesondere für die zweite Richtlinie zur Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte, "die jeden Patentverletzer in einen Kriminellen zu verwandeln droht".

Auch im EU-Parlament selbst zeigt sich weiter Unmut: Die grüne EU-Abgeordnete Eva Lichtenberger bemängelt eine "Scheinlösung". Diese werde "weder helfen, den Terrorismus zu bekämpfen, noch die Bürgerrechte angemessen schützen". Außerdem werde es wegen der fehlenden Kostenerstattung zu einer Marktbereinigung unter den Providern kommen. Hierzulande gab die innenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Gisela Piltz, zu bedenken, dass die Privatsphäre mit dem Beschluss "auch in Deutschland immer mehr zum Luxusgut wird". Ihre Partei lehne die Vorratsdatenspeicherung entschieden ab und werde dies im nationalen Gesetzgebungsverfahren deutlich machen.

"Die von der Richtlinie vorgegebenen Spielräume müssen im Sinne eines effektiven Grundrechtsschutzes ausgeschöpft werden, damit die Eingriffe so gering wie möglich bleiben", setzt sich auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar für eine möglichst verträgliche Umsetzung der EU-Vorgaben ein. Die freie und unbeobachtete Telekommunikation sei weiter als wesentliches Element der demokratischen Wissens- und Informationsgesellschaft zu betrachten. Die Speicherfrist ist laut Schaar daher auf sechs Monate und der Zugriff der Sicherheitsbehörden auf die Bereiche "Terrorismus und Organisierte Kriminalität" zu beschränken. Dies müsse in der Strafprozessordnung festgeschrieben werden. Zudem sei bei E-Mail oder SMS zu beachten, dass eine Speicherung von Inhalten – wie ausdrücklich vorgesehen – unterbleibe. Nach Angaben von Providern erfordert dies zusätzliche Filterleistungen, da bei beiden Diensten Verbindungs- und Inhaltsdaten auf Protokollebene vermischt werden.

Zur Auseinandersetzung um die Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, E-Mailen, SMS-Versand, Surfen, Chatten oder Filesharing anfallen, siehe siehe den Artikel auf c't aktuell (mit Linkliste zu den wichtigsten Artikeln aus der Berichterstattung auf heise online):

(Stefan Krempl) / (anw)