Irreale App-ifizierung

Computer, übernehmen Sie! Mit der App-ifizierung des Alltags haben Computerspiele endgültig Einzug in unser tägliches Leben erhalten - und wir merken es nicht einmal. Ständig verwechseln wir Virtualität und Realität.

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Von
  • Robert Thielicke

Computer, übernehmen Sie! Mit der App-ifizierung des Alltags haben Computerspiele endgültig Einzug in unser tägliches Leben erhalten - und wir merken es nicht eimmal. Ständig verwechseln wir Virtualität und Realität.

Früher haben Menschen versucht, über Computerprogramme die Wirklichkeit abzubilden. Im "smarten" Zeitalter wähnen sie sich einen Schritt weiter: Sie glauben, die Wirklichkeit zu erschaffen. Willkommen in der App-ifizierung. Kürzlich war von einem erstaunlichen Vorschlag des Senseable City Lab vom Massachusetts Institute of Technology zu lesen. Dort untersuchen Forscher, wie sich der Datenstrom in Städten zum bestmöglichen Nutzen ihrer Bewohner gestalten lässt. Als Anwendungsbeispiel nannte Direktor Carlo Ratti, dass Informationen aus Smartphones ermitteln könnten, wo der Bedarf an Taxis besonders groß ist. Die Fahrzeugflotte würde sich dann über die entsprechenden Plätze verteilen. Statt fester Taxistände gäbe es virtuelle, ohne festen Platz, selbstorganisierend und mithin – perfekt.

Klingt gut? Ja, aber nur solange man nicht merkt, dass etwas vergessen wurde: die Realität. Taxis sind keine Daten, sie parken nicht auf irgendeinem Server im Niemandsland, sondern ziemlich real mitten in einer Großstadt. Sie brauchen Platz, und wer die Taxistände immer wieder neu verteilen will, braucht nicht gar keine, sondern ausgesprochen viele. Und schafft damit gleichzeitig ziemlich viel leerstehenden Parkraum. Es gibt nur eine Ausnahme: Jeder ruft ein Taxi dann, wenn er es sofort benötigt und damit keine Parkzeit anfällt. Das aber kann er auch heute schon tun.

Das Beispiel ist symptomatisch dafür, wie die angeblich so smarte Welt den Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Wir erliegen einem seltsamen Kurzschluss: Dass die Lage der Dinge sich schon dadurch verändert, dass es ein Softwareanwendung für sie gibt. Computerprogramme sind die neuen Wunschzettel für Erwachsene: Man kann alles draufschreiben, und irgendjemand wird es schon vorbeibringen. Kurz: Wir halten die Virtualität für Realität. Wir beginnen zu glauben, dass die App schon das Taxi ist. Und man fragt sich: Wann wohl gibt es die erste App gegen die Euro-Krise?

Der Überzeugung, dass ein Computerprogramm praktisch ein Kraftwerk ist, hängen schließlich selbst Experten an. Sie propagieren ein Smart Grid. Aufwändige IT-Regeltechnik soll künftig Deutschlands Stromverbrauch exakt an die Produktion von Elektrizität anpassen – und so die schwankende Erzeugung aus Windrädern und Solaranlagen ausgleichen. Beispielsweise könnte die Herstellung einer Aluminiumhütte gedrosselt werden, wenn wenig Strom da ist. Bei großem Angebot würde sie im Gegenzug auf Hochtouren laufen. Das ist smart, natürlich. Aber ist es auch real? Um die Frage zu beantworten, sollte man sich zumindest eines vergegenwärtigen: Aluminiumhütten wurden nicht gebaut, um Energie zu verbrauchen - sondern, um Aluminium zu produzieren. Wenn sie also an einem Tag die Hälfte herstellen, muss es am nächsten das Eineinhalbfache sein. Das heißt: Sie benötigen für die gleiche Gesamtmenge Aluminium mehr Maschinen. Ob sich das am Ende lohnt? Vielleicht, aber man muss es schon einberechnen. Und die Rechnung ändert sich nicht, nur weil jemand einen Computer programmiert hat.

Noch ein Beispiel für diesen Kurzschluss: Carsharing, der zunehmende Ausweis grünen Lebensstils in der Stadt. Es ist durchaus denkbar, dass eine App irgendwann die Fuhrparks zahlreicher Anbieter nahezu perfekt organisiert – genauso wie es möglich ist, dass dann jeder so bedient wird, als besäße er ein eigenes Auto. Damit wären genau zwei Probleme gelöst: Man kann sich die Anschaffungskosten für ein eigenes Fahrzeug sparen und an den Straßenrändern wäre mehr Platz. Das größte Problem aber bliebe bestehen: Die Menschen fahren. Der Umwelt ist es herzlich egal, ob im eigenen PKW oder nicht. Nur weil es eine App gibt, wird das Autofahren nicht grüner. Auch Staus gibt es immer noch, genauso wie Lärmbelästigung und Unfallgefahr. Am Ende führt eben kein Computerprogramm an der einfachen Wahrheit vorbei: Das Leben selbst ist ziemlich real. (rot)