Die Kunst der Algorithmen

Kreatives Schaffen galt bislang als Besonderheit des Menschen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Computer auch diese Domäne erobern, sagt Buchautor Christopher Steiner.

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  • Christopher Steiner

Kreatives Schaffen galt bislang als Besonderheit des Menschen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Computer auch diese Domäne erobern, sagt Buchautor Christopher Steiner.

Vor acht Jahren war der Neuseeländer Ben Novak ein junger Musiker, der vom großen Durchbruch träumte. Wie viele andere hoffte er darauf, dass ein Musiklabel auf ihn aufmerksam würde. Nach welchen Kriterien die A&R-Abteilungen von Labels - A&R steht "Artist and Repertoire" – neue Talente auswählen, ist allerdings kaum nachvollziehbar. Die Fälle, in denen spätere Weltstars zunächst abgelehnt wurden, gehören zu den Legenden der Branche. Hilfe kam für Novak 2005 von unerwarteter Seite: Ein spezieller, für die Hitsuche entwickelter Algorithmus wurde auf sein Lied "Turn Your Car Around" aufmerksam, europäische Radiosender begannen das Stück zu spielen und machten es zu einem Top-10-Hit.

Die meisten Menschen dürfte das überraschen. Für sie gilt als ausgemacht: Maschinen und Kreativität, das passt nicht zusammen. Es ist ja nicht einmal klar, wie der kreative Prozess in der rechten Hälfte des Gehirns abläuft. Hunderte von Studien und Büchern haben mehr schlecht als recht versucht, das Geheimnis der Kreativität zu ergründen. Das Gehirn, so scheint es, funktioniert grundlegend anders als ein Prozessor.

Nun gerät auch diese Bastion menschlicher Besonderheit ins Wanken. Neue, komplexe Algorithmen halten Einzug in einige Bereiche kreativen Schaffens - so auch in die A&R-Arbeit, in der sie ganz langsam Menschen überflüssig machen.

Der Algorithmus, der Ben Novaks Karriere anschob, stammt von der Firma Music X-Ray. Deren Gründer Mike McCready hatte zehn Jahre an einer technischen Lösung gearbeitet, hitverdächtige Melodien zu entdecken. Nachdem Novak sein Stück auf McCreadys Online-Dienst hochgeladen hatte, sortierte dessen Software es in dieselbe Kategorie ein, in der auch Klassiker wie "Take it easy" von den Eagles und "Born to be wild" von Steppenwolf rangieren.

Der Algorithmus von Musix X-Ray verwendet so genannte Fourier-Transformationen, mathematische Verfahren, die aus komplexen Daten Signale vom Rauschen trennen können. Nacheinander werden damit Grundmelodie, Beat, Tempo, Rhythmus, Oktaven, Tonhöhen, Akkorde, Klangbrillanz und andere Eigenschaften eines Musikstücks analysiert. Die Software erstellt aus diesen Faktoren dreidimensionale Modelle eines Songs, die sie mit den Modellen bekannter Hits vergleicht.

Auf dem Bildschirm erscheinen die Modelle von Musikstücken dann als Punkte in einem dreidimensionalen Raum. Bekannte Hits ballen sich dabei – je nach Art der Musik – in dichten Punktwolken. Ist ein neuer Song nahe an einer solchen Punktwolke dran oder gar mittendrin, hat er ein Hitpotenzial.

McCreadys Software hat inzwischen über 5000 Musikern einen Vertrag mit einem Musiklabel beschert. Anfangs reagierten die A&R-Abteilungen auf Music X-Ray noch mit Skepsis. Inzwischen nutzen sie den Dienst regelmäßig. "Ich finde allmählich Freunde in der Musikindustrie", sagt McCready.

Musik ist für eine algorithmische Analyse besonders zugänglich. Denn Akkorde, Harmonien und Rhythmen folgen mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Aber lassen sich auch so subjektive Prozesse wie die Bewertung von Texten, von Literatur, mittels Software hacken?

Tatsächlich ja. Anfang des Jahres lobte die William and Flora Hewlett Foundation 100.000 Dollar für das beste Programm aus, das Essays benoten kann. Ziel war, einen Algorithmus zu finden, der die Benotung durch kompetente menschliche Experten nachbildet. Einige der 159 eingereichten Programme schafften genau das: Die Noten, die sie vergaben, deckten sich weitgehend mit denen eines Experten-Gremiums.

Solche Bots könnten die Produktivität von Lehrern steigern, die sich regelmäßig durch Hunderte von Aufsätzen ihrer Schüler oder Studenten kämpfen müssen. Mehr noch: Essays könnten als Format wieder verstärkt in standardisierte Abschlussprüfungen aufgenommen werden, die heute meist aus Multiple-Choice-Tests bestehen, weil die sich billig maschinell auswerten lassen.

Algorithmen eignen sich nicht nur dazu, kreative Arbeit kritisch zu prüfen. Künftig werden sie selbst kreative Arbeit leisten. Narrative Science etwa, eine Ausgründung von Journalistik- und Informatikprofessoren der Northwestern University, hat eine Reihe von Algorithmen entwickelt, die aus tabellarischen Spielberichten solide formulierte und grammatikalisch korrekte Sportartikel produzieren. Der Sender Big Ten Network setzt die Bot-Technologie bereits ein, um eine Minute nach dem Ende einer Sportpartie mit einem ersten Bericht aufwarten zu können.

Das liest sich dann nach einem Football-Spiel so: "Nathan Scheelhaase warf über 211 Yards und drei Touchdowns and rannte über 95 Yards und einen Touchdown, womit er No. 16 Illinois zu einem 41-20-Sieg gegen Indiana am Samstag im Memorial Stadium führte. Der Angriff von Illinois (6–0)dominierte das Spiel und riss enorme Strecken runter."

Das ist sicher noch keine Prosa, die Preise gewinnen kann. Doch wenn es um für Medienhäuser wichtige Kennzahlen wie die Anzahl der Pageviews geht, sind Bots deutlich produktiver als Menschen. Innerhalb von Sekunden können sie Artikel erstellen - sogar über Ereignisse, bei denen kein einziger Journalist zugegen war.

Und wie sieht es mit wirklich schöpferischer Arbeit aus, etwa in der Kunst? David Cope, emeritierter Informatik-Professor der University of California in Santa Cruz, glaubt, dass der Einzug der Bots in diese Gefilde nicht mehr lange auf sich warten lässt. Cope arbeitet seit 30 Jahren an LISP-Programmen mit Algorithmen, die Musik komponieren können. Klangen die ersten Ergebnisse noch reichlich schräg, können die jüngsten Versionen seiner Programme schon klassische Musik komponieren, die Meister wie Johann Sebastian Bach imitiert. Das machen sie so gut, dass manche Menschen den Unterschied nicht heraushören können.

Die Maschinenlern-Algorithmen von Copes Programm analysieren existierende Musik auf Muster, die sie als Ausgangspunkt nehmen, um neue Stücke zu komponieren. Man könnte das als Plagiat abtun. Cope hält dem jedoch entgegen, dass alle großen Musiker und Komponisten auf den Werken ihrer Vorläufer aufgebaut hätten. Genau das mache Kreativität aus.

Sein letzter Algorithmus, den er "Annie" getauft hat, geht noch einen Schritt weiter. Annie entscheidet selbst über die musikalischen Muster, die Kriterien und die Route, die "sie" beim Komponieren einschlägt. "Wirklich interessant ist, dass ich keine Ahnung habe, was Annie da manchmal tut", sagt Cope. "Sie überrascht mich genauso wie jeder andere Musiker."

Christopher Steiner ist Unternehmer und Autor des im August erscheinenden Buches "Automate This: How Algorithms Came to Rule Our World" (Portfolio/Penguin).

(nbo)