Heil-loses Chaos

Rund um die Frage, wann ein angeblich gesundheitsförderndes Mittel als zulassungspflichtiges Arzneimittel, als Medizinprodukt oder als Genussmittel zu klassifizieren ist, herrscht Durcheinander. Das verunsichert die Entwickler neuer Produkte und die Verbraucher gleichermaßen.

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Von
  • Nike Heinen
  • Veronika Szentpetery-Kessler
Inhaltsverzeichnis

Rund um die Frage, wann ein angeblich gesundheitsförderndes Mittel als zulassungspflichtiges Arzneimittel, als Medizinprodukt oder als Genussmittel zu klassifizieren ist, herrscht Durcheinander. Das verunsichert die Entwickler neuer Produkte und die Verbraucher gleichermaßen.

Die Gemüter laufen heiß in Bochum. In einem Laden nahe der Innenstadt treffen sich die "Dampfer" und ereifern sich über "die da oben, die ihre eigenen Gesetze nicht verstehen". Dabei wird es im Laden immer feuchter: Die Versammlung zieht aufgeregt an bunten Plastikröhrchen und stößt mit jedem erregten Wort weiße Nebelschwaden aus. Ein bisschen wie eine Lindwurmversammlung, die sich warm laufen lässt für das große Feuerspeien. Nur dass der weiße Dunst nicht aus einer Drachenlunge, sondern aus sogenannten E-Zigaretten aufsteigt – elektrische Nikotinverdampfer zur Rauchentwöhnung und zum geruchsneutralen Paffen, die sich seit ein paar Jahren wachsender Beliebtheit erfreuen. Die Gemüter kochen aber nicht nur in dem Elektrozigaretten-Laden in Bochum, sondern bundesweit. Denn zwischenzeitlich sah es so aus, als könnte es bald vorbei sein mit der vermeintlich gesunden Zigaretten-Alternative.

Jedenfalls wenn es nach Barbara Steffens geht, Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerin. Kurz vor Weihnachten brandmarkte sie die E-Zigaretten als "illegal". Ihr Argument: Weil die verdampften Lösungen den Tabakstoff Nikotin enthalten, der nicht nur ein Suchtmittel, sondern auch ein pharmakologischer Wirkstoff ist, hätte die Nikotinlösung aus den Verdampfern als Arzneimittel eingestuft und eine Zulassungsprüfung durchlaufen müssen. Genauso wie Asthmasprays oder inhalierbare Chemotherapien gegen Lungenkrebs. Diese Medikamente mussten vor ihrem Marktgang erst einmal unter Beweis stellen, dass sie den gesundheitlichen Zustand ihrer Anwender verbessern, nicht verschlechtern.

"Es gibt derzeit keine wissenschaftlichen Belege, dass der Dampf der elektronischen Zigaretten ungefährlich ist", argumentierte Steffens. Würden die E-Zigaretten zulassungspflichtig, wäre der Verkauf bis zum abschließenden Urteil verboten. Zwar äußerten sich die meisten anderen Landesgesundheits-minister inzwischen ähnlich. Doch gerade weil die Nikotinapplikatoren bisher nicht als Arzneimittel definiert waren, sind die Landesminister gar nicht zuständig. Sie können lediglich ihre Meinung äußern. Beim Aussprechen von Verkaufsverboten haben kleine und kleinste Behörden den Hut auf: die Regierungen der Städte etwa oder in Großstädten wie Berlin die der Bezirke. Doch in der Causa E-Zigaretten kratzten sich viele verwirrt am Kopf. Und nicht nur in diesem Fall.

Die Abgrenzung von Arzneimitteln zu Genussmitteln wie Tabakprodukten, aber auch zu Nahrungsergänzungsmitteln und vor allem zu Medizinprodukten verursacht wegen nicht eindeutig auszulegender Regularien allenthalben Kopfzerbrechen. Im Extremfall landen die Fälle vor Gericht, doch auch Juristen sind sich bei der Einordnung oft uneins, Fehlurteile in die eine wie die andere Richtung werden beklagt. Das verunsichert einerseits die Entwickler innovativer Produkte, weil völlig unkalkulierbar wird, ob und wie viel finanzieller Aufwand für klinische Studien betrieben werden muss: Wenn selbst Geräte und Methoden, die nur indirekt oder gar nicht auf den Stoffwechsel einwirken, per Richterspruch zum Arzneimittel erhoben werden können, dann gerät die Entwicklung zum riskanten Glücksspiel. Andererseits sind, weil die rechtliche Grauzone manchen Hersteller zum Tricksen verleitet, auch die Verbraucher betroffen: Sie bekommen dann entweder Arzneien serviert, in denen mehr Werbestrategie steckt als Wirkstoff; oder fragwürdige Mittel, deren Wirkung klinisch geprüft gehört hätte.

De jure verwandelt sich laut Europäischem Gerichtshof ein Produkt dann in ein Arzneimittel, wenn seine Inhaltsstoffe eine sogenannte "pharmakologische Wirkung" zeigen. Allerdings sind Tabakerzeugnisse laut dem deutschen Arzneimittelgesetz ausdrücklich vom Arzneimittelstatus ausgenommen und bisher als Genussmittel definiert – obwohl sie den Stoffwechsel massiv verändern. Das Nikotin der E-Zigaretten wird ebenfalls aus Tabak extrahiert und hat sogar ähnliche Verunreinigungen wie Tabakrauch. Das sieht allerdings nicht jede Behörde als Problem: Während das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) der NRW-Ministerin in einer eigenen Stellungnahme den Rücken stärkte, ordnete das Berliner Landesamt für Gesundheit auf Anfrage der Bezirke die E-Zigaretten weiterhin den tabakähnlichen Produkten zu.

Tun sich die lokalen Behörden dabei schwer, ein bereits erhältliches Produkt nachträglich zum Arzneimittel hochzustufen, können sie beim BfArM einen Prüfantrag stellen. Im Fall der Elektrokippen geschah das mehrmals, zweimal beschied die Behörde, es handle sich um Arzneimittel. Den Herstel- lern schmeckte die negative Publicity naturgemäß nicht; einem von ihnen gelangen Anfang April 2012 mit Anwaltshilfe vor dem Verwaltungsgericht Köln zwei Etappensiege: die Zulassungsbehörde BfArM darf die Bezeichnung "Arzneimittel" für E-Zigaretten nicht mehr verwenden, und das Gericht deutete zudem an, dass es die Einordnung der Technikglimmstängel als Genussmittel favorisiert.

"Da herrscht komplettes Definitionschaos", sagt Robert Kazemi, der in Bonn eine Kanzlei für Heilberuferecht betreibt und viele Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln und Medizinprodukten berät. Beide Produktklassen sind ebenfalls im Grenzbereich zu Arzneimitteln angesiedelt. Die Abgrenzung ist allerdings kompliziert. Sie hat weniger mit den Inhaltsstoffen oder der Darreichungsform eines Produktes zu tun, als mit dem, was der Hersteller zu diesen Inhaltsstoffen behauptet.