"Auf die Windkraft kommt ein regelrechtes Blutbad zu"

Wegen des Preisverfalls beim Erdgas wird in den USA erstmals mehr Strom in Gas- als in Kohlekraftwerken produziert. Verlierer dieser Entwicklung sind die Kern- und die erneuerbaren Energien.

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Von
  • David Rotman

Wegen des Preisverfalls beim Erdgas wird in den USA erstmals mehr Strom in Gas- als in Kohlekraftwerken produziert. Verlierer dieser Entwicklung sind die Kern- und die erneuerbaren Energien.

Vor einigen Monaten veröffentlichte die U.S. Energy Information Administration (EIA) eine Grafik, die sogar akribische Energiestatistiker schockierte. Sie zeigte, dass Kohlekraft erstmals nicht mehr die Hauptstromquelle in den USA ist. In den Monaten zuvor hatte sich Strom aus Erdgas auf den ersten Platz geschoben. Grund für den Erdgas-Boom ist die Erschließung etlicher neuer Vorkommen. Plötzlich nehmen sich all die Anstrengungen, eine Abkehr von nichtfossilen Energieträgern zu subventionieren, bescheiden aus.

Diese „Erdgas-Revolution“ ist vor allem neuen Bohrtechniken wie horizontalen Bohrungen und Hydrofracking zu verdanken. Mit ihnen können nun endlich große Schiefergas-Vorkommen ausgebeutet werden, die man zwar lange schon kannte, deren Förderung aber kaum möglich war. Das bedeutendste Reservoir ist die Marcellus-Formation, die sich über viele Millionen Hektar unter dem Bundesstaat Pennsylvania und Teilen von New York, Ohio, West Virginia, Maryland und Kentucky erstreckt.

Zwar streiten Experten, wie groß die Erdgas-Vorkommen der USA wirklich sind. Die meisten Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass das Land aus ihnen über Jahrzehnte mit Energie versorgt werden könnten. Auch in China und anderen Ländern sind große Schiefergas-Vorkommen entdeckt worden.

Dass die Erdgas-Revolution sich so schnell vollzogen hat, liegt nicht zuletzt an der Preisentwicklung, die von der EIA dokumentiert worden ist: Danach entspricht der Erdgaspreis aus der ersten Jahreshälfte 2012 – zwischen 6,80 und 8,50 Dollar pro Megawattstunde – hinsichtlich des Energiegehalts einem Rohölpreis von nur 15 Dollar pro Fass. Noch 2008, vor der Erschließung der Marcellus-Formation, lag der Erdgaspreis rund sechsmal höher.

Das bedeutet, dass moderne Gaskraftwerke derzeit Strom zu einem Preis von vier US-Cent pro Kilowattstunde produzieren – billiger als jedes Kohlekraftwerk. Und erst recht billiger als selbst die effizientesten Windkraft- und Solaranlagen, wenn man bei diesen die Kosten für Ausgleichskraftwerke einrechnet, die wegen der schwankenden Erträge der Erneuerbaren vorgehalten werden müssen.

„Billiges Erdgas hat die Kohlekraft ziemlich schnell dezimiert“, sagt David Victor, Energieexperte an der University of California in San Diego. „Und auf die Windkraft kommt ein regelrechtes Blutbad zu.“ Schlechte Nachrichten für alle, die in erneuerbare Energien investiert haben. Denn bei dem derzeitigen Erdgaspreis ist es für Wind- und Solarenergie mit heutigen Technologien unmöglich, mit Strom aus Gaskraftwerken gleichzuziehen.

„Das ist die größte Veränderung in unserem Energiesystem seit Einführung der Kernenergie vor 50 Jahren“, sagt Michael Greenstone, Ökonom am MIT. „Ich glaube, wir haben noch gar nicht begriffen, was das für Folgen haben wird.“ Billiges und im Überfluss vorhandenes Erdgas sei ein Segen für die Wirtschaft, weil in Erdgas-Gebieten neue Jobs entstünden und die Stromkosten für Verbraucher und das verarbeitende Gewerbe senke.

US-Stromgestehungskosten im Juni 2012.

Allerdings sei noch nicht klar, was der Wandel für den Klimawandel bedeute, gibt Greenstone zu. „Im Moment gibt es zwei Deutungen: Entweder ist der Gas-Boom eine ‚blaue Brücke’ in eine grüne Zukunft, oder er bringt das Aus für Kernenergie und Erneuerbare.“

Die Verbrennung von Erdgas – das im Wesentlichen aus Methan besteht – stößt deutlich weniger CO2 aus als die Verbrennung von Kohle. David Victor schätzt, das die Emissionen eines modernen Gaskraftwerks rund 40 Prozent der Emissionen selbst eines „sauberen“ Kohlekraftwerks ausmachen. Dank des Erdgas-Booms blasen die USA in diesem Jahr nun jährlich 400 Millionen Tonnen CO2 weniger in die Erdatmosphäre. Das ist doppelt so viel, wie die EU bislang an Emissionen im Rahmen ihrer Ziele aus dem Kyoto-Protokoll eingespart hat. „Kein Ereignis hat bisher so eine große und langanhaltende Auswirkung gehabt wie die Erdgas-Revolution“, sagt Victor.

Das ist vielleicht ein wenig zu optimistisch. Denn sollte der Erdgaspreis steigen, könnten die Energieversorger wieder verstärkt auf Kohlekraft setzen. Zudem werden bei der Förderung von Erdgas Treibhausgase freigesetzt. Die bisherigen Studien zum Ausmaß dieser Emissionen sind widersprüchlich. Klar ist nur, dass zum einen durch den Energieeinsatz für die Förderung selbst CO2 emittiert wird. Zum anderen entweicht aus Bohrlöchern und Pipelines Methan, dass eine viel höhere Klimawirksamkeit hat als CO2. Wieviel Methan hier austritt, lässt sich bislang nicht zuverlässig messen.

Klar ist auch, dass die CO2-Einsparungen durch den Erdgas-Boom bei weitem nicht ausreichen, um den Treibhausgas-Ausstoß auf das Maß herunterzuschrauben, dass Klimaforscher anmahnen. Nach Abschätzungen des MIT-Ökonomen Henry Jacoby werden die Emissionen der USA beim jetzigen Energiemix bis 2020 sinken, um dann bis 2050 zu stagnieren. Das bedeutet: Der Erdgas-Boom sollte eher als Atempause betrachtet werden, in der man bessere Energietechnologien für die Zeit ab 2020 entwickeln kann. Bis dahin wird sich nach Jacobys Schätzungen der Erdgaspreis verdoppeln – aber immer noch zu niedrig sein, als dass Erneuerbare konkurrenzfähig wären.

Das tatsächliche Problem sei, dass die US-Klimapolitik den Ausstoß von CO2 nicht bestrafe, sagt Jacoby. Deshalb fehlten Anreize, in saubere Energie zu investieren. „Denn der einzige Vorteil der Erneuerbaren ist, dass sie kein CO2 ausstoßen“, so Jacoby.

So zeigt der Erdgas-Boom einmal mehr, dass erneuerbare Energien zu teuer sind, um mit fossilen Energiequellen konkurrieren zu können, solange nur die Gestehungskosten den Strompreis bestimmen – und nicht die CO2-Emissionen. „Der Übergang zu Erneuerbaren wurde nicht nur mit dem Klimawandel begründet, sondern auch mit dem Argument, fossile Energieträger würden irgendwann unglaublich teuer“, sagt Severin Borenstein, Ökonom am Energy Institute der University of Berkeley. Das sei eine unglückliche Prognose gewesen. Zwar seien Wind- und Solarenergie deutlich billiger geworden, aber die Kosten für die Kohle- und Gasförderung seien ebenfalls gesunken.

Viele Ökonomen plädieren deshalb dafür, CO2-Emissionen einen Preis zu geben: entweder über ein Emissionshandelssystem oder eine Kohlenstoffsteuer (Carbon Tax). Doch keins der Konzepte wurde von der US-Politik ernsthaft verfolgt. Inzwischen bezweifeln immer mehr Ökonomen, dass eine CO2-Bepreisung einen Boom bei erneuerbaren Energien bringen könnte.

Borenstein etwa weist darauf hin, dass ein CO2-Preis, der Erneuerbare konkurrenzfähig machen würde, politisch nicht durchsetzbar sei. Stattdessen sollten die USA mehr in die Energieforschung investieren, verbunden mit einem mittleren CO2-Preis, der politisch akzeptabel sei, aber genug Anreize für Investionen in Erneuerbare liefere. „In gewisser Weise ist das ein Rückzieher, aber realistisch betrachtet muss die Wissenschaft mit etwas Besserem rüberkommen“, sagt Borenstein.

Eine Schlussfolgerung, die vielen Verfechtern erneuerbarer Energien sauer aufstoßen dürfte. Doch die Zahlen zur Wettbewerbsfähigkeit von Wind- und Solarenergie sind nun mal, wie sie sind.

„Die Erneuerbaren sind noch nicht so weit“, sagt Greenstone, der ausführliche Kostenanalysen verschiedener Stromquellen vorgenommen hat. Gaskraftwerke seien nicht nur die billigste Energiequelle. Erneuerbare seien auch dann noch viel teurer, wenn Umweltverschmutzung und Treibhausgasemissionen in die Kosten aller Energiequellen eingepreist würden.

„Wenn wir das einmal als Tatsache akzeptiert haben, müssen wir uns fragen, was wir in den kommenden ein, zwei Jahrzehnten machen wollen“, fragt Greenstone. Er sieht Erdgas zwar als eine mögliche „Blaue Brücke“. „Aber was wartet auf der anderen Seite der Brücke? Führt sie wirklich in eine Zukunft, in der erneuerbare Energien mit fossilen Energiequellen gleichauf liegen? Ohne eine CO2-Bepreisung und erhebliche Investitionen in Forschung und Entwicklung ist das nicht sehr wahrscheinlich.“

All jene, die an Alternativen arbeiten, sollten anerkennen, dass das billige Erdgas auf absehbare Zeit nicht versiegen wird. Sie müssen auch einsehen, dass viel kostengünstigere Technologien für eine saubere Energieversorung nötig sind. Die gute Nachricht ist aber: Solche Technologien werden bereits entwickelt. Der Erdgas-Boom verdeutlicht aber, dass der Durchbruch hin zu sauberer Energie eine gewaltige Herausforderung ist. (nbo)