10 Jahre Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace

Ein Viehrancher, der auch als Lyriker der Hippie-Band Grateful Dead gearbeitet hatte, betrat am 8.2.1996 die Rednertribüne des Weltwirtschaftsforums und legte richtig los: Perry Barlow verlas die "Unabhängigskeitserklärung des Cyberspace".

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 62 Kommentare lesen
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Detlef Borchers

Wie seit vielen Jahren üblich, trafen sich auch vor 10 Jahren die Vertreter großer Konzerne mit den einflussreichsten Politikern in den Schweizer Bergen, um auf dem Weltwirtschaftsforum über das Wohl und Wehe der Welt und ihrer Bewirtschaftung nachzudenken. Damals sorgten einige Geschäfte für Aufsehen, etwa der Einstieg von Medienkonzern Bertelsmann bei AOL im Mai 1995. Konsequenterweise lud der Veranstalter zum 96er-Treffen nicht nur den südafrikanischen Präsidenten de Klerk und Nelson Mandela zusammen ein. Auch die Risikokapitalisten und einige Akteure aus diesem Cyberspace kamen und wurden neugierig beäugt. Ein Viehrancher, der auch als Lyriker der Hippie-Band Grateful Dead gearbeitet hatte, betrat am 8.2.1996 die Rednertribüne und legte richtig los. Perry Barlow verlas die "Unabhängigskeitserklärung des Cyberspace" (der komplette Text ist auf Telepolis zu finden, das demnächst ebenfalls sein 10-jähriges Jubiläum feiern kann):

"Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Laßt uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr.

Wir besitzen keine gewählte Regierung, und wir werden wohl auch nie eine bekommen - und so wende ich mich mit keiner größeren Autorität an Euch als der, mit der die Freiheit selber spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die Ihr über uns auszuüben anstrebt. Ihr habt hier kein moralisches Recht zu regieren noch besitzt Ihr Methoden, es zu erzwingen, die wir zu befürchten hätten."

Die müden Giganten aus Fleisch und Stahl reagierten matt. Ein Augenblinzeln, etwas höflicher Beifall, mehr nicht. 1996 waren die Hauptthemen des Weltwirtschaftsforums die Zukunft Südafrikas und die kommende gemeinsame europäische Währung. Barlows Vortrag lag weitab, und die pathetische Anlehnung an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung erschloss sich nicht jedem. Vom damaligen deutschen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer ist der verwunderte Ausspruch überliefert: "Was will der Mann und wovon redet er überhaupt bei diesem Cyberspace?" Zwei Tage später hielt Barlow die Rede noch einmal, auf der Preisverleihung der mittlerweile eingestellten Multimedia-Messe Milia in Cannes. Diesmal erntete er donnernden Applaus – über eine halbe Stunde lang stehende Ovationen – und wurde von VR-Pionier Jaron Lanier abgeknutscht. Mehr noch: Barlow wurde flugs zum Thomas Jefferson des Cyberspace erklärt, seine Rede zierte nach seiner Einschätzung mehr als 20.000 Webseiten.

Heute kann die Rede als Dokument der Illusionen gelesen werden, die sich mit der Kommerzialisierung des Cyberspace verbanden. Niemand glaubt mehr an die These vom rechtsfreien Raum in Digitalien. Und die müden Giganten haben längst ihre Claims abgesteckt. In Europa beschäftigt die Vorratsdatenspeicherung die Gemüter, in den USA will die Regierung des Meatspace an die Daten des Cyberspace, die Google sammelt, das mit "Do no evil" eine Barlowsche Maxime zum Firmenmotto gemacht hat. Zusammen mit der Magna Charta des Informationszeitalters und den 95 Thesen des Cluetrain Manifests bildet Barlows Unabhängigkeitserklärung die Ursuppe, aus der alle löffeln, die immer wieder große Hoffnungen in das Internet setzen. (Detlef Borchers) / (jk)