Fühlen statt sehen

Neue Therapiegeräte können verlorene Sinne wiederbeleben: Blinde lernen etwa durch Vibrationssignale auf der Zunge, ihre Umgebung zu erkennen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 7 Kommentare lesen
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

In Europa könnte bald ein Hilfsgerät für Blinde auf den Markt kommen, das ihren ausgefallenen Sehsinn kompensiert. Das berichtet Technology Review in seiner aktuelle Ausgabe 11/2012 (am Kiosk oder portokostenfrei direkt im Heise Shop erhältlich). Das vom US-Unternehmen Wicab entwickelte „BrainPort V100“ nutzt eine Kamerabrille und übersetzt dessen Aufnahmen in leichte Stromsignale für die Zunge. Sein Funktionsprinzip erinnert an das Kinderspiel, bei dem man Zahlen und Formen auf den Rücken des anderen malt, die allein durch die Berührung erkennbar sind.

Beim Wicab-Gerät fungiert ein Kunststoffplättchen mit 400 winzigen Elektroden als Malhilfe, das über ein Kabel mit dem linken Brillenbügel verbunden ist. Legen sich die Patienten das Plättchen auf die Zunge, geben die Elektroden einen leichten Strom ab und lösen ähnlich wie Sektbläschen ein kribbelndes Gefühl aus. Die Kribbelsignale bilden die Videoaufnahmen der Brille – die zunächst in eine Schwarz-Weiß-Darstellung übersetzt werden – als 20 mal 20 Pixel große Bilder auf der Zunge ab. Schwarze Bildpunkte erzeugen kein Signal, weiße Punkte ein starkes und die Grautöne ein mittelstarkes Kribbeln.

Die Auflösung klingt nicht nach viel, doch Wicab-Geschäftsführer Robert Beckman ist zufrieden. „Im Rahmen unserer Studie, die wir gerade für die US-Zulassung durchführen, haben wir alle Ziele erreicht, und es gab keine Sicherheitsprobleme“, sagt der Firmenchef. Dabei absolvierten die Probanden verschiedene Aufgaben, um aufzuzeigen, ob ihnen das Gerät im Alltag wirklich helfen kann. Sie lernten, einfache Objekte zu identifizierten oder einen Testkorridor entlangzugehen, indem sie der Deckenbeleuchtung folgten. Sie konnten Türen erkennen und Hinweisschilder mit großer Schrift korrekt lesen. Amy Nau, eine der betreuenden Ärzte, meint: „Es ist nicht ganz leicht, Sie müssen schon viel üben, aber das muss man mit einem Blindenstock auch.“

Geräte wie das BrainPort V100 werden Sinnesersatzgeräte genannt („sensory substitution devices“, kurz SSD). Grundlage der auch Neurofeedback genannten Methode ist die außerordentliche Wandlungsfähigkeit des Gehirns. Sie ist beispielsweise im Spiel, wenn sich bei blinden Menschen Gehör und Tastsinn schärfen, um den fehlenden Sehsinn möglichst auszugleichen. Doch das Gehirn kann sogar lernen, bekannte Reize auf ganz neue Art zu verwerten.

Genau diese Fähigkeit wollen die Forscher mithilfe von SSD bei Patienten mit Sinnesverlusten wecken. Die Ärztin Amy Nau von der University of Pittsburgh sieht in solchen Geräten ein enormes Potenzial: „Sie können nicht nur Blinden helfen, sondern möglicherweise auch anderen Patienten, die durch Schlaganfall oder schwere Gehirnverletzungen einen ihrer Sinne verlieren.“

Mehr dazu in Technology Review 11/2012:

  • Mit den Ohren sehen

(vsz)