Tübinger Wissenschaftler erforschen das Fahren bei schlechten Sichtverhältnissen – mit teils überraschenden Erkenntnissen

Wie Kontrast das Geschwindigkeitsempfinden beeinflusst

Forscher des Max-Planck-Institut für Kybernetik in Tübingen haben die Auswirkungen von Nebel oder beschlagenen Scheiben auf das Verhalten von Autofahrern untersucht. Die Ergebnisse sind auch für die Automobilentwicklung interessant

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  • Gernot Goppelt

Tübingen, 8. November 2012 – Forscher des Max-Planck-Institut für Kybernetik in Tübingen haben die Auswirkungen von Nebel oder beschlagenen Scheiben auf das Verhalten von Autofahrern untersucht. Was eigentlich reine Grundlagenarbeit in der Sehforschung ist, könnte dennoch geeignet sein, Ideen für die Fahrzeugentwicklung zu gewinnen.

Eiliger Blindflug

Die Forschergruppe um Dr. Paolo Pretto nutzte für ihre Untersuchungen eine drei Meter hohe und sieben Meter breite gekrümmte Leinwand, vor die sie ein Auto positionierte, in dem die "Autofahrer" verschiedenen simulierten Fahrsituationen ausgesetzt wurden. Situation 1: freie Sicht; Situation 2: eine beschlagene Windschutzscheibe, die zu einer homogenen Kontrastverschlechterung führt. Im Vergleich dieser Szenarien bestätigte sich eine Erkenntnis, die auch schon in früheren Forschungsarbeiten gewonnen wurde und zumindest für einen Laien überraschend ist: Eine homogene Kontrastverschlechterung wie durch eine beschlagene Scheibe führt dazu, dass Autofahrer ihr Tempo niedriger einschätzen und deswegen schneller fahren.

Nun könnte man annehmen, dass Nebel einen ähnlichen Effekt hat, doch das Gegenteil ist der Fall: Autofahrer verringern ihr Tempo oder anders ausgedrückt: Bei Nebel überschätzen sie ihre Geschwindigkeit, was sie unwillkürlich dazu animiert, etwas Gas wegzunehmen – ganz wie es sich gehört. Aber wie kann es sein, dass eine beschlagene Scheibe und Nebel zu einem jeweils völlig konträren Verhalten der Autofahrer führen?

Echter Nebel bremst

Die Tübinger Forscher haben die Theorie entwickelt, dass dabei die Homogenität der Kontrastverteilung eine Rolle spielt. Anders als bei einer beschlagenen Scheibe sind bei Nebel die Objekte im Fernbereich kontrastarm und im Nahbereich relativ kontrastreich zu sehen. Im zentralen Blickfeld – also in größerer Entfernung – werden daher Objekte als relativ langsam wahrgenommen. Im Nahbereich und peripheren Sichtfeld herrscht dagegen bessere Sicht, somit ein höherer Kontrast – und die Geschwindigkeit wird als höher wahrgenommen.

Bei klarer Sicht erfasst der Mensch normalerweise zunächst Objekte in der Ferne, die dann bei Annäherung scheinbar immer schneller werden, um dann gewissermaßen links und rechts am eigenen Auto vorbeizuwischen. Es ist quasi eine ständig zunehmende Beschleunigung, an die der Hochgeschwindigkeitsmensch gewöhnt ist und die er zu interpretieren weiß. Bei Nebel gerät dieser Ablauf etwas aus den Fugen: Erst sieht man wenig oder nichts und dann schießen Objekte quasi aus dem Nichts hervor, sodass ihre Geschwindigkeit offenbar umso schneller wahrgenommen wird. Kurz: Die graduelle Kontrastverteilung führt zu einer Überschätzung der eigenen Geschwindigkeit, die homogene Kontrastverteilung zu einer Unterschätzung.

Anti-Nebel beschleunigt

Dir Forscher wollten nun die Theorie mit einem dritten Versuchsaufbau überprüfen, den es in der Realität nicht gibt – dem "Anti-Nebel". Dabei ist die Sicht im Nahbereich schlecht und in der Ferne gut. Nach den bisherigen Erkenntnissen müsste ein Autofahrer also Objekte in der unmittelbaren Peripherie aufgrund des geringen Kontrasts weniger wahrnehmen, was ähnlich wie bei der beschlagenen Scheibe zu einer Unterschätzung der Geschwindigkeit führt. Und die gute Fernsicht müsste diesen Eindruck bestärken. Tatsächlich fuhren die Probanden im Durchschnitt 100 km/h, bei klarer Sicht dagegen nur 70 km/h und im "echten" Nebel etwa 50 km/h.

In der Realität nimmt in atmosphärischen Umgebungen der Kontrast bei ansteigender Entfernung grundsätzlich ab. Der Mensch nutzt dieses Umstand, um Entfernungen einzuschätzen, ohne diese bewusst zu reflektieren. So erklärt sich zum Teil auch, dass Berge bei klarer Luft näher erscheinen als sonst. Der Kontrast taugt zur Einschätzungen von Entfernungen und bei schneller Bewegung zur Einschätzung von Geschwindigkeiten. Der Versuch mit dem Anti-Nebel ist zwar unrealistisch, belegt aber, dass Menschen den Kontrast einer Szenerie unwillkürlich in ein Verhalten umsetzen, das immer nach dem selben Muster funktioniert.

Kontrast ist ein Entwicklungskriterium

Für Dr. Pretto und seine Kollegen ging es "nur" darum, ihr Wissen in der Sehforschung zu erweitern. Vielleicht lassen sich die Erkenntnisse aber auch im Automobilbau nutzen. Ein Aspekt könnte sein, die bildliche Darstellung in Fahrsimulatoren weiter zu verbessern. Die Überlegungen zum graduellen Kontrastverhalten könnten zum Beispiel in der Lichttechnik genutzt werden: Offenbar ist es wichtig, auch Objekte in der Nahperipherie hinreichend kontrastreich darzustellen, damit die Eigengeschwindigkeit nicht zu niedrig eingeschätzt wird. Das würde bedeuten: Eine Lichtverteilung, die sich zu sehr auf den Fernbereich konzentriert, entspricht hinsichtlich der Kontrastverteilung dem ominösen Anti-Nebel, der die Autofahrer zum schnellen Fahren verleitet.

Literatur:

Paolo Pretto, Gregor Rainer, Heinrich H. Bülthoff: Foggy perception slows us down (ggo)