Festplatte feudeln

Digitaler Speicherplatz ist kein Thema mehr in einer Zeit, in der jeder Kapazität in Terabytes auf dem Schreibtisch stehen hat und sich auf der Weltfestplatte im Internet, der Cloud, ausbreiten kann. Das verändert die Ökonomie des Erinnerns.

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Von
  • Peter Glaser

Digitaler Speicherplatz ist kein Thema mehr in einer Zeit, in der jeder Kapazität in Terabytes auf dem Schreibtisch stehen hat und sich auf der Weltfestplatte im Internet, der Cloud, ausbreiten kann. Das verändert die Ökonomie des Erinnerns.

Früher war Löschen noch etwas für echte Männer. Gelöscht war gelöscht. Die ganze verweichlichte Welt des UNDO, das feige Backup-Erstellen und Festplattenretten gab es nicht. Etwas zu löschen war eine unumkehrbare Entscheidung. Heute leben wir in einem Zeitalter des umfassenden Speicherwahns. Jeder hebt alles auf, jedenfalls in digitaler Form, denn Daten wiegen nichts und nehmen keinen Raum ein.

Wollen wir nicht mehr vergessen? Doch. Aber wir wollen nicht löschen. Und Löschen ist in einer Welt, die so voller Computer ist wie unsere, gleichbedeutend mit Aufräumen. Mit den Bürosymbolen am Bildschirm des Apple Macintosh war 1984 der Mülleimer in den digitalen Alltag eingekehrt – und mit ihm ein verhängnisvolles Prinzip, nämlich dass Dinge, die eigentlich schon weggeworfen waren, wieder aus dem Mülleimer zurückgeholt werden konnten. Zu spüren bekommt man diese Löschmutlosigkeit anlässlich der seltenen Gelegenheiten, zu denen man seine Festplatte aufräumt. Selten, denn man ahnt bereits vorher, dass auf dem Gerät nicht nur nüchterne Daten und Souvenirs vergangener Lebensabschnitte zu finden sein werden, sondern auch komplette Ausführungen seiner selbst.

Um es mit einem analogen Beispiel zu illustrieren: Ich habe eine ziemlich große Bücherwand im Wohnzimmer und bringe es nur alle paar Jahre zuwege, sie auszumisten und neu zu sortieren. Ich habe Angst, dabei in einem tagelangen Rausch aus Wiederentdeckungen verloren zu gehen. Vor allem aber habe ich Angst vor der Person, die ich war, als ich das letzte Mal Ordnung gemacht habe – sinnierend, ein Buch in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Längst rauche ich nicht mehr, aber ich weiß, ganz tief ist da noch etwas, das durch bloßes Büchersortieren wieder wachgeküsst werden könnte und das mich in eine Person verwandeln würde, die Zigaretten raucht und eigentlich längst nicht mehr existiert.

Macht es einen Unterschied, ob man in einem Umzugskarton wühlt, der drei Umzüge lang nicht mehr geöffnet worden war, oder in dem Daten-Fuchsbau einer Festplatte? Das Gedächtnis arbeitet grundlegend anders als eine Festplatte. Was wir Erinnerung nennen, ist ein biologischer Prozess, der mit Übergängen zu tun hat, mit einem Verblassen, Destillieren, Abmildern – und nichts mit dem An- und Ausknipsen von Bits. Auf einer Festplatte führt schon die Bezeichnung "Baumstruktur" für die Verzeichnisgliederung in eine falsche Vorstellung, nämlich, dass es sich um etwas Oberirdisches handelt, während das Ganze viel eher dem Labyrinth eines Beutetiers gleicht.

Und das, was wir da hamstern, ist weitestgehend Zeug, das wir nicht brauchen. Heizmaterial für die Seele, das uns das Gefühl gibt, Vorräte zu besitzen. Auch das wird einem schmerzhaft deutlich, während man seine Harddisk durchgräbt und überlegt, wie lange man wohl braucht, um etwa 74.000 Textdateien auch nur zu überfliegen. Wir alle geben uns einer gigantischen Illusion hin. Wir glauben, dass Computer uns dabei helfen, Dinge zu ordnen. Stets wie mit dem Lineal gezogen stehen die Zeilen auf dem Bildschirm.

Aber auch der Begriff "Datenverarbeitung" führt in die Irre – es werden Daten erzeugt. Es ist die schiere Menge, die einem Menschenwesen mit begrenzter Lebenszeit die Grenzen zeigt – und die Feinkörnigkeit dessen, was man da alles so wiederfindet. Man findet ständig neue Beweisstücke, dass man gelebt hat, Lebenswinzigkeiten, die dazu führen, dass man zu seinem eigenen Spurensicherungstrupp wird.

Es kann durchaus auch beglückend sein, wenn man sich mit Computerhilfe auf eine neue Art genau und detailtief erinnern kann. Nicht selten ist es aber so, dass eine unbereinigte Art der Erinnerung den Genuss trübt: haufenweise unscharfe und verwackelte Fotos von der Amerikareise vermitteln einem das Gefühl, ein unscharfer Zeitgenosse zu sein.

Aber der Mensch braucht das Ungefähre, Ungewisse und Unaufgeräumte, um sich zu vergewissern, dass nicht bereits alles festgelegt ist – auch nicht die Vergangenheit – und um sich frei fühlen zu können. Es ist deshalb eine Art Naturgesetz, dass Festplatten nie ganz aufgeräumt werden. (bsc)