Studieren auf dem Online-Campus

Fernkurse ziehen Hunderttausende Studenten und Millionen Dollar Wagniskapital an. Ist das nur ein Modehype, oder öffnet sich die Hochschullehre endlich doch?

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Nicholas Carr

Fernkurse ziehen Hunderttausende Studenten und Millionen Dollar Wagniskapital an. Ist das nur ein Modehype, oder öffnet sich die Hochschullehre endlich doch?

Vor hundert Jahren schien die Hochschulbildung kurz vor einer technischen Revolution zu stehen. Durch die Verbreitung eines mächtigen neuen Kommunikationsnetzes – dem modernen Postsystem – konnten Universitäten ihre Lehre weit über die Grenzen des Campus hinaus verbreiten. Die „Maschinerie“ für solche Heim-Studiengänge, schrieb Frederick Jackson Turner, ein berühmter Historiker von der University of Wisconsin, werde „fruchtbare Ströme von Bildung in trockene Gegenden“ des Landes bringen. Bis zu den 1920er-Jahren entwickelte sich eine regelrechte Fernstudien-Manie. Insgesamt beteiligten sich viermal so viele Menschen an solchen Lehrgängen wie an allen Colleges und Universitäten der USA zusammen eingeschrieben waren.

Doch die Hoffnungen, die Pädagogen in diese frühen Fernlehrgänge setzten, beschränkten sich nicht nur darauf, dass sie damit mehr Menschen erreichen würden. Viele glaubten auch, dass die Lehrgänge per Post besser seien als die traditionellen auf dem Campus, weil sie damit Aufgaben und Beurteilungen genau auf jeden einzelnen Studenten zuschneiden könnten.

Heute sind auffallend ähnliche Behauptungen zu hören. Ein neues mächtiges Kommunikationsnetz – das Internet – weckt erneut Hoffnungen auf eine Revolution der Hochschulbildung. Mehrere der führenden US-Universitäten, darunter das MIT, Harvard, Stanford und Princeton, bieten kostenlose Kurse über das Netz an; mehr als eine Million Menschen aus aller Welt haben sich vergangenen Herbst dafür eingeschrieben. Viele Befürworter preisen diese „massiv offenen Online-Kurse“ (kurz MOOC) dafür, unterschiedlichsten Personengruppen eine Spitzenausbildung zu ermöglichen – etwa Menschen aus abgelegenen Gegenden oder solchen, die bereits mitten im Berufsleben stehen.

Nicht jeder allerdings ist so begeistert von den neuen Entwicklungen. Online-Kurse, so fürchten manche Bildungsexperten, lenken die Universitätsverwaltung von anderen Aufgaben ab und beeinträchtigen schlimmstenfalls sogar die Qualität der Lehre vor Ort. Als warnendes Beispiel nennen Kritiker den Hype vor einem Jahrhundert: In den 1920er-Jahren beeilten sich viele Universitäten, mehr Heimstudien-Programme anzubieten. Doch wie Untersuchungen zeigten, erreichte deren Qualität keineswegs das versprochene Niveau, und nur ein kleiner Bruchteil der Eingeschriebenen brachte sein Studium tatsächlich zu Ende. Zehn Jahre später war die ganze Aufregung deshalb schon wieder vorbei.

Wird es dieses Mal anders sein? Hat sich die Technologie inzwischen so weit entwickelt, dass Fernunterricht sein revolutionäres Versprechen erfüllen kann? Noch ist es für eine Antwort zu früh – die aktuelle Begeisterung für MOOCs lässt einen leicht vergessen, dass die Online-Kurse noch in den Kinderschuhen stecken. Doch Stärken und Schwächen dieser neuen Bildungsform lassen sich durchaus schon jetzt analysieren.

„Ich hatte keine Ahnung, was ich da tue“, sagt Sebastian Thrun mit einem Kichern. Im Oktober 2011 hat der 45 Jahre alte Robotik-Experte seine Einführung in künstliche Intelligenz (KI) an der Stanford University kostenlos online gestellt. Offline nehmen daran meist nur ein paar Hundert Studenten teil. Thrun, der neben seinem Lehrauftrag in Stanford auch einen Top-Forschungsjob bei Google hat, ahnte, dass die Vorlesung im Netz deutlich mehr Menschen anlocken würde. Er rechnete mit vielleicht 10000 Studenten. Doch es meldeten sich rund 160000 an.

Diese Erfahrung hat Thruns Leben völlig verändert: Zusammen mit zwei anderen Roboterforschern gründete er ein ambitioniertes Start-up namens Udacity. Das Unternehmen bezahlt Professoren dafür, dass sie im Netz offene Vorlesungen abhalten; als Technologie kommt das für Thruns KI-Kurs entwickelte System zum Einsatz. Die meisten der bislang 14 angebotenen Kurse fallen in die Fachgebiete Informatik und Mathematik.

Udacity ist nur eines von vielen Unternehmen, die von der Begeisterung für MOOCs profitieren wollen. Im April 2012 gingen zwei Kollegen von Thrun an der Informatik-Fakultät in Stanford, Daphne Koller und Andrew Ng, mit einem ähnlichen Start-up an den Markt. Wie Udacity ist auch Coursera ein kommerzielles Unternehmen, ausgestattet mit Millionen Dollar an Wagniskapital. Anders als Thruns aber arbeitet es mit großen Universitäten zusammen: Koller und Ng entwickeln ein System, über das etablierte Hochschulen ihre eigenen Kurse online anbieten. Zu den ersten Partnern von Coursera gehören Stanford, Princeton, die University of Pennsylvania, die University of Michigan und 29 weitere Hochschulen. Derzeit sind ungefähr 200 Kurse im Angebot, die Fachgebiete reichen von Statistik bis Soziologie.

An der Ostküste der USA haben sich im Mai 2012 das Massachusetts Institute of Technology (MIT) und die Harvard University zusammengetan und edX gegründet, eine gemeinnützige Organisation, die ebenfalls gebührenfreie Online-Kurse für jedermann anbietet. Ausgestattet mit 30 Millionen Dollar von jedem Partner, arbeitet edX mit einer am MIT entwickelten Open-Source-Lehrplattform. Sie haben wie die kommerziellen Konkurrenten Video-Unterricht und Diskussionsforen im Angebot. Zusätzlich können Studenten simulierte Experimente in virtuellen Laboren durchführen. Verantwortlich für das Projekt ist Anant Agarwal, ehemaliger Leiter des Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory am MIT. (grh)