"Die Menschen sollen Probleme lösen lernen"

Salman Khan, Gründer der Khan Academy, über die Probleme des heutigen Bildungssystems, seine Pläne für die Zukunft und die Kritik an seinem Konzept.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 25 Kommentare lesen
Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Antonio Regalado

Salman Khan, Gründer der Khan Academy, über die Probleme des heutigen Bildungssystems, seine Pläne für die Zukunft und die Kritik an seinem Konzept.

Wie verrückt muss man sein, um ein Highschool-Lehrvideo über Mathematik inmitten von Katzenvideos und anderem Unsinn zu veröffentlichen? Salman Khan ist so verrückt. In seinem neuen Buch „The One World School House: Education Reimagined“ erinnert er sich, wie er vor acht Jahren zum ersten Mal ein Lehrvideo über Mathematik veröffentlichte. „Ich hatte keine festen Vorstellungen davon, wie Menschen lernen“, schreibt der studierte Ökonom, der seinen Abschluss in Harvard machte und zwischenzeitlich bei einem Hedgefonds arbeitete. „Ich war nicht durch eine Orthodoxie belastet, die einem sagt, was richtig ist.“

Inzwischen ist Khan mit seiner unkonventionellen Herangehensweise zu einem Star der Pädagogik-Szene geworden. CNN hat ihn bereits zur Zukunft des Bildungssystems interviewt, und seine Nonprofit-Organisation Khan Academy steigt nun auch in Bildungssoftware ein.

Sein Einstieg in Online-Bildung begann, als er seiner zwölfjährigen Cousine Nadia helfen wollte, eine Mathematikprüfung zu bestehen. Seitdem hat er mehr als 3000 Videos aufgenommen, die von schriftlicher Division bis zu Plattentektonik alles Mögliche erklärt. 204 Millionen Mal wurden sein Youtube-Tutorien, die es inzwischen teilweise auch auf Deutsch gibt, angeklickt. Längst sind auch Philanthropen auf ihn aufmerksam geworden, Bill Gates spendete der Khan Academy gar 16,5 Millionen Dollar.

Sein Buch ist teils ein Aufruf an weitere Spender, teils eine persönliche Geschichte, wie einer vom Millionär zum Lehrer aus Berufung wird, der aufs große Geld verzichtet. Die Frau des Venture-Kapitalgebers John Doerr stellte ihm damals einen Scheck über 100.000 Dollar aus, als sie erfuhr, dass Khan von seinen Ersparnissen lebte.

Vor allem ist das Buch aber eine kluges Plädoyer dafür, das Bildungssystem neu zu organisieren. In vielen Teilen der dritten Welt würde immer noch der sture Frontalunterricht betrieben, den einst die Preußen einführten. Haben einzelne Schüler den Stoff noch nicht verstanden, wird der Lehrplan dennoch durchgepaukt – mit dem Ergebnis, dass so mancher Lernende am Ende scheitert.

Khans Idee: mit Hilfe von Online-Lehrstunden, Quiz und Bewertungssystemen ein neues, bezahlbares Lernsystem einführen, in dem jeder in seiner eigenen Geschwindigkeit voranschreiten kann. Algebra kommt erst dran, wenn die Arithmetik sitzt. Und statt endloser Belehrungen wird der Stoff an praktischen Probleme demonstriert. Technology Review sprach mit Khan über seine Pläne für die Khan Academy und die Kritik an seinem Konzept.

Technology Review: Die Khan Academy will „Weltklasse-Bildung für jeden, überall“ bieten. Das ist ein hehres Ziel. Wie kamen Sie dazu?

Salman Khan: Als ich 2007 die Anträge ausfüllte, um den Nonprofit-Status der Akademie anerkannt zu bekommen, trug ich das unter „Mission“ ein. Zu dem Zeitpunkt hatte ich ein paar hundert Lehrvideos veröffentlicht. Heute ist das definitiv unsere Mission und auch unser Slogan. Wir glauben fest daran, dass es keine Zugangsbeschränkungen zum Lernen als Teil des Bildungssystems geben sollte.

TR: Der Slogan klingt gut, aber nichts ist wirklich kostenlos. Irgendwer muss doch dafür bezahlen.

Khan: Kostenlos heißt für uns genau das: kostenlos. Bezahlt haben Spender dafür. Langfristig könnte es aber auch andere Einnahmequellen geben, die nicht mit dem Anspruch kostenloser Lehre in Konflikt stehen müssen. Wir haben das bei den Machern der Sesamstraße gesehen, dem Children’s Television Workshop. Sie bieten etwas zum Lernen für umsonst an, sind damit aber sehr erfolgreich.

Wir haben, anfangs unabsichtlich, inzwischen bewusster, eine Marke dort aufgebaut, wo es nur sehr wenige Marken gibt. Mit der Zeit werden die Leute vielleicht sagen: „Hey, ich vertraue auf die Khan Academy. Dort können wir sicher sein, dass wir den Stoff verstehen“, und dann könnten auch Bücher oder Spielzeuge von Dritten ins Spiel kommen. Wir lizenzieren bereits Inhalte an kommerzielle Anbieter. Ein Konzept will Geräte verkaufen, auf denen unsere Videos drauf sind.

TR: Es gibt kostenlose College-Kurse im Netz. Sehen Sie irgendein Bezahlmodell dafür?

Khan: Ich kann mir vorstellen, dass das in fünf Jahren etwa so aussieht: Für den Lern-Part bezahlt man nichts, aber wenn man mit einem Zertifikat nachweisen will, was man gelernt hat, geht man zu einem speziellen Zentrum und bezahlt dort für die Prüfung. Nehmen wir an, solch eine Prüfung zu organisieren, kostet 100 Dollar. Dann könnte man 150 Dollar dafür berechnen. Die 50 Dollar, die man zusätzlich einnimmt, könnte man wieder in den kostenlosen Online-Unterricht investieren.

Das stimmt meines Erachtens mit unserer Mission überein. Die Prüfungsgebühren würden so von Tausenden von Dollars auf ein paar hundert gesenkt. Die Lernsoftware wiederum würden den Studenten sagen, wann sie so weit sind. Schluss damit, sich mit 20.000 Dollar fürs College zu verschulden und nachher zu fragen, was man dafür eigentlich bekommen hat.

Das ist dann vielmehr eine Art Mikrozertifikat-System. Man bekommt für 150 Dollar eine Bescheinigung über die Grundlagen der Buchführung, und man weiß vor Bezahlen des Tests, dass man ihn auch schaffen kann. Das wäre ein enormer Pluspunkt für Bildungskonsumenten und könnte die Rechnungen beim Lernenden aufwiegen.

TR: Wie definieren Sie „Weltklasse-Bildung“?

Khan: „Weltklasse“ ist wahrscheinlich schwierig zu definieren. Der Anspruch ist nicht, denen, die es sich nicht leisten können, eine billige Alternative zu bieten. Es geht uns darum, dass das Lehrangebot so gut ist wie jedes kostenpflichtige oder noch besser. Wenn die Menschen unsere Videos sehen, sollen sie sagen: „Ich habe genauso viel gelernt, wie ich anderswo hätte lernen können.“

Hier berührt unsere Mission noch einen anderen Aspekt. Wir sind einerseits ein Webangebot, andererseits stellen wir auch die Frage: „Was ist eigentlich ein Klassenzimmer? Wie nutzt man ein Klassenzimmer am besten?“ Es geht nur zur Hälfte um die Khan Academy als Software. Die allgemeinere Idee ist, dass niemand mehr frontal unterrichtet. Statt dieser Art von Unterricht sollen Menschen in einer Klasse zusammenkommen und Probleme lösen lernen.

TR: Über kaum jemanden wird im Bildungssektor derzeit so viel gesprochen wie über Sie. Dabei haben Sie keine Ausbildung als Lehrer. Das hat manche wütend gemacht.

Khan: Schauen Sie, Pädagogik ähnelt in vielem der Wirtschaftswissenschaft. Es ist kein Problem, zwei Doktoren zu finden, die theoretisch genau entgegengesetzt ausgerichtet sind. Wie die Keynesianer und die Monetaristen der Chicago-Schule. Oder in der Auseinandersetzung um neue versus alte Mathematik, die schon seit Jahrzehnten geführt wird. Die beiden Lager hassen einander, sie schreien sich an. Wir dagegen versuchen, nicht dogmatisch zu sein.

Ein Großteil der Kritik, die ich einstecken musste, lautet: „Es gibt keinen Königsweg. Die Khan Academy wird die Probleme des Bildungssystems nicht lösen.“ 100-prozentige Zustimmung. Andererseits glauben wir, dass wir erst am Ende der ersten Runde sind. Wir werden in den kommenden fünf Jahren massiv in Analytik für eine dynamische Bewertung investieren, mehr als alle anderen.

Was weiß ein Schüler, was weiß er nicht? Wie effektiv ist das Kursmaterial? Das ist das Spannende daran: die Möglichkeit, mit Netzgeschwindigkeit und großen Datenmengen Experimente zu machen. Die Khan Academy von heute ist nur eine grobe Näherung an das, was wir in fünf oder zehn Jahren sein werden. Und auch das wird dann noch nicht der Königsweg sein. Aber wir bewegen uns in die richtige Richtung.

TR: In der Beschreibung Ihrer Mission sprechen sie von Bildung für „jede Art von Mensch“. Sie sagen aber nicht, für „jeden Menschen“. Wie schätzen Sie heutzutage die tatsächliche Nachfrage nach Wissen ein?

Khan: Als ich das schrieb, habe ich mir darüber keine tiefschürfenden Gedanken gemacht. Ich dachte, es könnte interessant sein für Menschen wie mich, als ich zwölf Jahre alt war – einigermaßen motiviert. Wer weiß schon, wie groß die Klasse mit solchen Menschen ist? Die meisten Webseiten für Lernwillige haben zehntausende Nutzer.

Wir haben inzwischen fast 6,5 Millionen Nutzer im Monat. Wenn Sie aber schauen, wie die sich beteiligen, dann sind es eher ein paar hunderttausend.

Meine wesentliche Erkenntnis ist, dass es viel mehr Motivierte gibt als wir ursprünglich gedacht haben. Der Hauptgrund, warum Studenten sich nicht mehr beteiligen, ist Frustration. Sie lernen Algebra, haben aber keine gute Grundlage in Arithmetik. Das rauscht dann einfach an ihnen vorbei, und Sie machen Unsinn auf den hinteren Bänken. Das passiert eigentlich überall.

TR: Was bereitet Ihrer Mission die größten Probleme?

Khan: Da kommen wir wieder zur ersten Frage, nach dem kostenlosen Angebot. Ich muss finanzielle Mittel zusammenbekommen. Wenn ich mich darum kümmere, bin ich nicht an den Videos beteiligt, dann helfe ich dem Team nicht bei unserem Produkt. Viele führende Köpfe in Nonprofit-Organisationen sind mit dem Einwerben von Spenden und Fördergeldern beschäftigt. Das gilt so nicht für mich, ich mache es sowieso. Aber es gibt dieses Spannungsfeld. Unser Budget für das nächste Jahr beträgt zehn Millionen, und wir bezahlen unsere Leute gut. Wir vergeben aber keine Aktienoptionen. Wer hier arbeitet, soll merken, dass wir dabei sind.

(nbo)