Jenseits von GPS

Wir leben in einer Zeit, in der man verlorengehen kann vor lauter Gegenwart. Orientierung ist das Gebot der Stunde – aber die Kompassnadel zeigt nicht einfach nach Norden.

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Von
  • Peter Glaser

Wir leben in einer Zeit, in der man verlorengehen kann vor lauter Gegenwart. Orientierung ist das Gebot der Stunde - aber die Kompassnadel zeigt nicht einfach nach Norden.

Aus allen Teilen des Planeten werden Information und Nachricht in endlosen Mehrzahlen auf uns zugeschwemmt. Von einem ganz bestimmten Ort herzukommen, gibt uns nicht nur eine selbstverständliche Richtung nach Längen- und Breitengraden, sondern auch eine Richtung in der Zeit. Die vom Norden her auslaufenden und die Stadt umfassenden Berge meiner Heimatstadt am Südrand der Alpen haben mir vom ersten Lebensalter an eine innerste Grundorientierung gegeben. Die Bergkämme wie Schlüsselbärte, die eine jeweils ganz bestimmte Richtung öffnen. Später, in Städten, um die sich berglose Umgebungen in weiten Flächen ausbreiten, war ich tief desorientiert.

Gelegentlich finden wir hinaus in die schöne Übermacht einer Landschaft. Als ich nach Deutschland übersiedelt bin, fehlten mir die Berge nicht aus Sentimentalität, sondern weil ich mich davor immer orientiert gefühlt hatte (und ganz selbstverständlich vor Augen, dass es Dinge gibt, die größer sind als ich). Ich wusste immer, in welche Richtung ich mich gerade bewege. Das änderte sich, als ich ins Flache umzog und zugleich die ersten Tauchgänge in die digitale Welt unternahm. Draußen im Analogen war ich desorientiert und nahm sozusagen eine innere Bergkammlinie mit ins Internet.

Als ich das erste Mal in Kairo war, hatte ich einen Kompass dabei, eigentlich, um die Ausrichtung der Pyramidenseiten nach den Himmelsrichtungen nachzuprüfen. Nützlich war mir der Kompass dann, als die Straßenschilder erst nur noch arabisch beschriftet und dann gar nicht mehr vorhanden waren. Da ich in etwa wusste, wo ich hinwollte, lief ich mit Plan und Kompass nach meinem Ziel. Hier war ich dann auch an einem Ort, an dem die Angst vor der digitalen Welt und ihren Zumutungen ihren Anfang genommen hat: Die höchste hieroglyphisch darstellbare Zahl zeigt einen Mann, der zu Boden gesunken ist und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt.

Als ich mir vor einer Reise nach Tokio einen Stadtplan kaufte, dachte ich erst, man habe mir ein Mängelexemplar geschickt. Der Teil mit dem Straßenverzeichnis fehlte. Es gibt in Tokio keine Straßennamen, und es gibt keine Hausnummern. Stattdessen gibt es an größeren Kreuzungen Polizei-Container, in denen man verlorengegangene Touristen abholen kann. Nach ein paar Tagen hatte ich eine Theorie entwickelt, weshalb im Großraum Tokio an die 40 Millionen Menschen leben: Sie finden da alle nicht mehr raus. Eine amerikanische Künstlerin unternahm einmal den Versuch, Straßennamen in Tokio einzuführen. An der Aktion nahmen nur Ausländer teil. Ein Japaner, der in eine fremde Stadt kommt, wird das westliche Gefühl der Desorientierung vermutlich nicht nachvollziehen können, da ihm das zugehörige Konzept der Orientierung fremd ist. (bsc)