Langzeiterhaltung digitaler Information bleibt ein ungelöstes Problem

Computer fänden "ihre eigenen Wege, um jede Langzeitarchivierung zu erschweren", hieß es auf der Abschlussveranstaltung des Nestor-Projekts zur Langzeitarchivierung.

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Von
  • Richard Sietmann

Dass digitale Daten instabil und gefährdet sind, wird gern verdrängt. Daran hat sich, seit 2003 das Projekt Nestor gestartet wurde, nichts geändert. Diesen Eindruck konnte man auf der gestrigen Abschlussveranstaltung des Projekts in Berlin gewinnen. Computer fänden "ihre eigenen Wege, um jede Langzeitarchivierung zu erschweren", brachte der Informatiker Wolfgang Coy von der Humboldt-Universität die Problematik auf den Punkt. Er führte als aktuelles Beispiel die E-Book-Reader an, die schon in der einfachsten Form als Lesegeräte die Inkompatibilität zum Geschäftsmodell erheben. Mit ihnen kehre das schon tot geglaubte Digital Rights Management zurück, und künftige Geräte würden nicht nur kleiner, leichter und billiger, sondern auch interaktiv, multimedial, musik- und videofähig. Die damit einhergehende Vielfalt von Contentformaten sei nicht nur für Nutzer ein Albtraum, sondern insbesondere auch für Archivare.

Mit insgesamt rund 4,7 Millionen Euro hat das Bundesforschungsministerium seit 2003 Projekte zur Langzeitarchivierung gefördert, darunter den Aufbau des "Network of Expertise in long-term STOrage and availability of digital Resources". Unter der Abkürzung Nestor, die wohl an den weisen Ratgeber des Königs Agamemnons in der griechischen Mythologie erinnern soll, haben die führenden "Gedächtnisinstitutionen" unter den Bibliotheken, Archiven und Museen in Deutschland eine Austauschplattform geschaffen, um gemeinsam den Herausforderungen der langfristigen Bewahrung digitaler Ressourcen unter Einbeziehung der Produzenten – Verlage, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Behörden, aber auch technischer Dienstleister wie Rechen-, Daten- und Medienzentren oder Datenbankbetreiber – zu begegnen.

Im Rahmen des Projektes wurden E-Tutorials zur Weiterbildung entwickelt, Workshops und Summer Schools durchgeführt sowie als Zusammenfassung des aktuellen Wissensstandes das Nestor-Handbuch herausgegeben, dessen Version 2.0 gerade unter dem Titel "Eine kleine Enzyklopädie der Langzeitarchivierung" erschienen ist. Zusammen mit dem DIN trieb man die Arbeit an Archivierungsstandards voran. Daneben bündelte Nestor die seit 2004 in Deutschland entwickelten technischen Archivlösungen wie kopal, BABS oder Digitales Archiv des Bundesarchivs. "Die Mittel wurden erfolgreich eingesetzt", zog der für Schlüsseltechniken zuständige Unterabteilungsleiter Rainer Jansen vom Bundesforschungsministerium (BMBF) gestern in Berlin Bilanz; das Ziel, der Aufbau einer Infrastruktur, sei erreicht.

Tatsächlich hat Nestor die FuE-Abteilungen der großen Archiveinrichtungen, auch zu den vergleichbaren Projekten im Ausland, gut vernetzt. Gleichwohl schlug Reinhard Altenhöner, Leiter der Informationstechnik in der Deutschen Nationalbibliothek, auf der Veranstaltung etwas kritischere Töne an. Er warf die zentrale Frage danach auf, "wer letztlich die Verantwortung übernimmt und bezahlt". Es gebe zwar viele FuE-Projekte, aber "auf der organisatorisch-operativen Ebene passiert immer noch erstaunlich wenig", klagte er. Die Politik sollte sich bewusst werden, dass sie hier ein gewaltiges Problem vor sich herschiebe.

Das schon zu Projektbeginn angestrebte Ziel, eine dem Nationalkomitee für Denkmalschutz vergleichbare Einrichtung für die Aufgaben der digitalen Langzeitarchivierung zu schaffen, um die Widrigkeiten der föderal zersplitterten Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu überwinden, wurde nicht erreicht. Es steht nach wie vor im Raum – politische Unterstützung fand sich dafür bei den Regierungsparteien bisher nicht.

Es geht ja nicht nur um digitale Kulturgüter. Christian Keitel vom Landesarchiv Baden-Württemberg verwies in der Podiumsdiskussion auf Meldungen, wonach die Pensionskasse in Japan den Versicherungsverlauf von Millionen Anspruchsberechtigten nicht mehr nachweisen könne, weil die Daten vor 1997 verschwunden sind. Sollten sich die Meldungen bewahrheiten und Rentenkürzungen die Folge sein, seien sicherlich "kleinere Verwerfungen" zu erwarten. Probleme mit der Datenhaltung seien seit der Einführung der elektronischen Verarbeitung bekannt. "Wir haben jetzt schon 50 Jahre Informationsverlust – es wäre wünschenswert, da nicht weitere 50 Jahre anzuhängen". Vielleicht sollte man Verlustlisten schreiben, was bereits unwiederbringlich verlorenging, um das Bewusstsein zu schärfen.

Altenhöner fragt sich, ob es ausreicht, mit Papieren vernünftig auf die Krise der digitalen Archivierung hinzuweisen, oder ob es "erst richtig krachen" müsse, bevor Politiker aufwachen – so wie in der Finanzwelt, wo die Politik erst nach dem Crash die Notwendigkeit der Regulierung entdeckte. Politiker reagierten nur auf mediale Ereignisse, meinte Eric Steinhauer von der Fernuniversität Hagen. Er glaubt, "wir werden wohl eher die Crash-Situation erleben". Man könne die Krise auch als Chance begreifen, wandte Stefan Gradmann von der Humboldt-Universität ein. "Eine Krise wird erst dann zur Chance, wenn sie wahrgenommen wird", entgegnete Keitel; solange das Bewusstsein nicht da sei, "geht die Krise munter weiter".

Unumstritten war, dass die Erhaltung und Verfügbarkeit sowohl originärer digitaler Objekte als auch retrodigitalisierter Ressourcen ein "Work in Progress" bleiben. Die entscheidenden Fragen, was wie worauf bewahrt werden soll, lassen sich nicht endgültig beantworten. Deshalb wollen die acht Partner den Kooperationsverbund auch nach dem Ende der Projektförderung beibehalten.

Die Bayerische Staatsbibliothek, die Deutsche Nationalbibliothek, die Fernuniversität Hagen, die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die Humboldt-Universität, das Landesarchiv Baden-Württemberg, das Institut für Museumsforschung und – neu hinzugestoßen – das Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg haben eine entsprechende Vereinbarung geschlossen. So können die Arbeiten in den vier Arbeitsgruppen zu multimedialen Objekten und Formaten, der technischen Obsolenz von Hardware, zu Rechtsfragen sowie zum Preservation Planning in bescheidenem Rahmen weitergehen – "auf der Basis von Eigenmitteln", wie die stellvertretende DNB-Direktorin Ute Schwens erklärte. "Das ist ganz im Sinne der BMBF-Projektförderung", freute sich BMBF-Vertreter Jansen, so wohne jedem Ende auch ein Anfang inne.

Zum Problem der Langzeitarchivierung und zu den Projekten, die sich damit befassen, siehe auch:

(Richard Sietmann) / (anw)