Die Fallstricke von Big Data

Der Glaube, dass mehr Daten zu mehr Transparenz und zu mehr Effizienz führen, ist gefährlich, argumentiert Evgeny Morozov in seinem neuen Buch. Dieser "Solutionismus" könnte mehr Probleme schaffen, als er lösen soll.

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Von
  • Brian Bergstein

Der Glaube, dass mehr Daten zu mehr Transparenz und zu mehr Effizienz führen, ist gefährlich, argumentiert Evgeny Morozov in seinem neuen Buch. Dieser "Solutionismus" könnte mehr Probleme schaffen, als er lösen soll.

Auf den ersten Blick war es nur eine weitere Google-Karte, die da im Januar 2009 online ging. Ihr Titel: Eightmaps.com. „Eight“ bezog sich auf eine Volksabstimmung, die einige Wochen zuvor in Kalifornien durchgeführt worden war. Der Gegenstand von „Proposition 8“ war allerdings hart umkämpft: Sie schlug vor, die kalifornische Verfassung dahingehend zu ändern, dass sie gleichgeschlechtliche Ehen prinzipiell verbietet. Nach kalifornischem Recht müssen alle Wahlkampfspenden über 100 Dollar, die an Kampagnengruppe zu einem Referendum gehen, in einer öffentlich zugänglichen Datenbank eingetragen werden. Genau dort hatte sich das Projekt Eightmaps.com bedient: Es zeichnete auf einer Google-Karte alle Befürworter der Proposition 8 auf – mit Namen und Postleitzahlen, in manchen Fällen sogar mit Angabe des Arbeitgebers.

Schon bald brach über dort eingetragenen Gegnern gleichgeschlechtlicher Ehen ein Sturm der Entrüstung zusammen. Einige wurden drangsaliert, andere erlebten einen Boykott ihrer Geschäfte. Da wurde es auch so manchem Befürworter der Schwulenehe mulmig. Was, wenn irgendwann sie selbst von religiösen Extremisten kartografiert würden? Das Komitee hinter der Proposition 8 rief daraufhin ein Bundesgericht an, die Offenlegungsklausel zu Wahlkampfspenden abzuschaffen oder zumindest die Meldegrenze von 100 Dollar anzuheben. Das Gericht lehnte dies jedoch ab. Volksabstimmungen bräuchten das „helle Licht“ der Spendentransparenz, beschied es. Im Gegenzug schlug das Gericht sogar vor, so viele Daten wie möglich über politische Vorgänge zu sammeln.

Für Evgeny Morozov, Autor für Magazine wie Slate und The New Republic, ist die Eightmaps-Episode ein Beispiel für eine ungute Entwicklung, die er als „Internet-Zentrismus“ bezeichnet. Der verzerre allmählich unsere Wahrnehmung, welche Angelegenheiten wirklich wichtig sind. Wie dabei die Forderungen nach Transparenz und Privatsphäre immer öfter in Konflikt geraten, beschreibt Morozov nun in seinem pointierten neuen Buch „To Save Everything Click Here“.

Transparenz gehe zunehmend auf Kosten anderer Werte, mahnt Morozov, weil es so einfach und billig sei, im Netz möglicherweise nützliche Daten zu verbreiten. Das Internet habe uns von selbst ernannten Hütern von Informationen befreit, glauben viele. Mit der Konsequenz, dass jeder Gedanke über die Zugänglichkeit von Informationen als rückwärts gewandt gilt.

Mit seiner Furcht vor der Transparenz ist Morozov nicht alleine. Der Cyberrechtler Lawrence Lessig hat kürzlich in einem Essay davor gewarnt, dass immer mehr Daten über Politiker eher den Zynismus der Bürger anheizen, anstatt Politik besser zu machen. Er scheint jedoch keine Hoffnung zu haben, dass irgendetwas der großen Datensammelei Einhalt gebieten könnte. Sein Vorschlag: Man sollte Wahlen öffentlich finanzieren, damit die Bürger nicht ihren Zynismus über die Motive von Abgeordneten ergießen können.

Damit allerdings ist Morozv gar nicht einverstanden. Für ihn bestärkt Lessig das Missverständnis, das Internet sei eine Art Naturgewalt, nicht ein Konstrukt von Menschen, weshalb jeder Widerstand zwecklos sei. Ganz im Gegenteil, meint Morozov: Wir brauchen Widerstand. Anstatt fragwürdige Datenprojekte wie Eightmaps.com über Gesetzesänderungen verhindern zu wollen, sollten Online-Systeme so angelegt sein, dass sie bestimmten Werten neben dem der Transparenz genügen. Datenbanken über Kampagnenspenden könnten beispielsweise so konstruiert sein, dass sich die Datensätze nicht mehr en Masse herausziehen lassen. Das würde es zwar schwieriger machen, in Daten interessante Sachverhalte aufzuspüren. Für die Demokratie sei es aber besser, wenn Menschen eine Sache unterstützen können ohne die Furcht, ihr Nachbar könnte ihm dies bald übel nehmen.

Bereits in seinem ersten Buch „The Net Delusion“ hatte Morozov versucht, den Mythos zu entlarven, soziale Medien sei eine wirksame Waffe gegen Diktaturen. Im Gegenteil, argumentierte er, würden clevere Regime anhand der dort verfügbaren Daten Dossiers über Dissidenten anlegen. Genau das passiert etwa in China, Syrien oder im Iran.

In dem neuen Buch will er nun die Luft aus dem Denken des „Solutionism“ ablassen. Mit diesem Begriff ist der Glaube gemeint, jedwede Ineffizienz lasse sich ausmerzen, wenn nur genug Daten zur Verfügung stünden. Mit Hilfe von Prognose-Software versucht etwa die Polizei in den USA, aus Verbrechensstatistiken auf künftige Straftaten zu schließen und dort entsprechend die Streifen zu verstärken. Algorithmen wiederum analysieren das Klickverhalten auf Medienseiten, um Journalisten Hinweise auf Geschichten zu geben, die gut ankommen.

Dabei kann viel schiefgehen, glaubt Morozov. Maximale Effizienz ist für ihn kein Wert an sich. Ineffizienz kann oft vorteilhafte soziale Entwicklungen in Gang setzen. Dass Zeitungen früher nicht wussten, wie häufig ein Artikel gelesen wird, hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass sie sich ausgiebig mit der Regierungspolitik beschäftigen.

Technische Hybris

Das größte Problem ist jedoch, dass Daten unvollständig oder geradezu reduktionistisch sein können. Weil viele Straftaten nicht erfasst werden, könnte Prognose-Software einen Stadtteil fälschlich als „sicher“ einstufen, wo Streifenpolizisten aus täglicher Erfahrung zu einer ganz anderen Einschätzung kommen. Morozov befürchtet, dass in Zukunft solch „intuitives Wissen“ von Algorithmen verdrängt wird, die nur mit harten Daten arbeiten. Ebenso zeichnen die Beträge, die eine Person an politische Kampagnen oder Parteien spendet, nur ein unvollständiges Bild von deren politischer Überzeugung.

Das ist wohl Morozovs stärkstes Argument: Wie objektiv auch immer Daten erscheinen, ihre Interpretation ist eine subjektive Angelegenheit. Deshalb müssen wir zuerst einmal entscheiden, welche Daten überhaupt erhoben werden. Es mag banal klingen, dass auch „Big Data“ nie ein vollständiges Bild von der Komplexität des Lebens vermitteln können. Doch werden mittels Informationstechnik inzwischen so viele Daten produziert, dass man leicht vergisst, welche vielleicht noch fehlen.

Dieses Problem ist nicht neu. Dass Daten täuschen können, machte schon den ersten „Power-Usern“ wie dem US-Militär zu schaffen. Im Vietnam-Krieg versuchte es, den Nachschub der Vietcong über den so genannten Ho-Chi-Minh-Pfad im Dschungel der angrenzenden Länder Kambodscha und Laos zu unterbinden. Damit dies gelingt, brauchte es für den damaligen Verteidigungsminister Robert McNamara mehr Daten darüber, was auf dieser Nachschublinie tatsächlich passiert. McNamara, der zuvor als Chef des Ford-Konzerns Erfahrungen mit quantitativen Management-Verfahren gesammelt hatte, veranlasste deshalb die Operation „Igloo White“: Die US-Luftwaffe begann, über dem Dschungelpfad batteriebetriebene Sensoren abzuwerfen – 20.000 Stück insgesamt von 1967 bis 1972.

Getarnt als Pflanzen oder Holzstückchen sollten die Sensoren Stimmen aufzeichnen, Körpertemperaturen und Urinabsonderungen messen oder die Bodenerschütterungen durch LKWs erfassen. Die Daten wurden dann an Flugzeuge gefunkt und von diesen an ein Kontrollzentrum in Thailand weitergeleitet. Dort wurden sie in eine elektronische Karte des Ho-Chi-Minh-Pfads eingespeist. Jedes Mal, wenn eine neue Sensor-Information einging, sahen die Techniker an der entsprechenden Stelle des Pfads ein Lämpchen aufleuchten. 360/65-Computer von IBM berechneten, wie schnell sich das leuchtende Datenelement fortbewegte. Anhand dieser Information wurden dann Kampfjets angewiesen, wo entlang des Pfads sie angreifen sollten.

Im Kontrollzentrum sah Igloo White wie ein Erfolg aus: Wenn wieder Bomben gefallen waren, erloschen die Lichter auf der Karte. Tausende von Militärlastern mussten vernichtet worden sein. Die eine Milliarde Dollar pro Jahr, die Igloo White kostete, schienen gut investiert. Diese Überzeugung geriet erst ins Wanken, als eine Untersuchungskommission des US-Kongresses das Programm genauer untersuchte. Tatsächlich hatten die Vietcong bald herausgefunden, wie sie das Sensornetz austricksen konnten: Sie platzierten Urin-getränkte Streifen auf dem Pfad und ließen LKW-Geräusche von Bändern abspielen. Das US-Militär verließ sich jedoch auf seine IBM-Rechner. Ergebnis: Es wurden nicht nur deutlich weniger Militärlaster vernichtet als zuvor gedacht; die Vietcong schafften es sogar, unerkannt ganze Panzerverbände über den Ho-Chi-Minh-Pfad nach Südvietnam zu verlegen.

Nun könnte man dies als Anekdote aus einem Krieg abtun, in dem ohnehin viel schieflief. Doch das ginge an der Sache vorbei. Der entscheidende Punkt ist nicht, dass die Computertechnik der Operation Igloo White unzureichend war – sondern dass die Ingenieure im Kontrollzentrum sich nicht über die Beschränktheit des gesamten Verfahrens im Klaren waren.

Der Historiker Paul Edwards hat Igloo White in seinem Buch „The Closed World“ als Beispiel einer technischen Hybris bezeichnet. Das Militär glaubte, mit Hilfe von Computern und Echtzeit-Datenübermittlung ließe sich eine „Kuppel mit globaler technischer Übersicht“ schaffen. In der ließe sich mit zunehmender Gewissheit ermitteln, was in der Welt vor sich geht. Nur passen viele Dinge in diese „Kuppel“ nicht hinein. Das Leben ist chaotisch, nicht alles lässt sich in computerlesbaren Daten abstrahieren.

Natürlich unterscheiden sich die heutigen Datensätze von den damaligen. Das Vertrauen in sie und der Drang, ein Informationspanoptikum zu errichten, sind jedoch geblieben. Google zum Beispiel will nach eigenen Aussagen „die Informationen der Welt organisieren und allgemein zugänglich und nützlich machen“. Morozov hat recht, wenn er fragt, ob dies überhaupt ein angemessenes Ziel ist. Wer weiß schon, welches Datenanalyse-Projekt von heute sich nicht in 40 Jahren ähnlich betriebsblind erweisen wird wie die Operation White Igloo?

Das Buch:

Evgeny Morozov: To Save Everything Click Here: The Folly of Technological Solutionism, Public Affairs, 2013

Mehr zum Thema Big Data gibt es im Fokus der aktuellen Ausgabe 03/2013 von Technology Review. Sie kann online hier bestellt werden.

(nbo)