Ein Computer fürs Gesicht?

Die Augmented-Reality-Brille Google Glass soll in diesem Jahr auf den Markt kommen. Aber Google hat noch eine Menge zu tun, wenn sie ein Publikumsrenner und kein Spielzeug für Spezialisten werden soll.

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Von
  • Tom Simonite

Die Augmented-Reality-Brille Google Glass soll in diesem Jahr auf den Markt kommen. Aber Google hat noch eine Menge zu tun, wenn sie ein Publikumsrenner und kein Spielzeug für Spezialisten werden soll.

Google Glass, jene Mischung aus Brille und winzigem Computer, ist eine erstaunliche technische Leistung. Was vor Jahren mit riesigen Display-bewehrten Helmen und Rucksack-Rechnern begann, hat sich zu einer praktikablen Anwendung von Augmented Reality (AR), von "erweiterter Realität", gemausert. Wo sonst das rechte Brillenglas ist, befindet sich ein winziger Bildschirm, dessen Bilder die Szenerie der Umwelt überlagern. Hinzu kommen eine Kamera, ein Bewegungssensor, eine drahtlose Internetverbindung und reichlich Elektronik – alles kompakt im Brillengestell untergebracht.

Vor allem Google-Mitgründer Sergey Brin hat sich für die Entwicklung von Google Glass stark gemacht. Wer den Datenkonzern kennt, weiß, dass auch die AR-Brille irgendwann ein Geschäft werden soll. Um Faszination für das Gerät zu wecken, hat Google Videos produziert, in denen Trapezkünstler, Skydiver und Supermodels mit einer Google Glass auf der Nase zu sehen sind. In einem anderen kürzlich vorgestellten Video sieht man Nutzer das Gerät mit Sprachbefehlen bedienen, um Bilder aufs Display zu holen oder Nachrichten abzuschicken.

Doch werden die Menschen deswegen irgendwann für Google Glasses Schlange stehen so wie für iPhones? Lässt sich damit wirklich Geld verdienen? Sollen die AR-Brillen ein ebenso großer Erfolg werden wie Smartphones und Tabletrechner, muss Google einige Hürden nehmen. Mode, Design und nicht zuletzt zwischenmenschliche Beziehungen sind auf diese Variante des mobilen Computings noch gar nicht vorbereitet. Google will sich derzeit nicht dazu äußern, wiederholt nur seine Ankündigung, die Glasses im Laufe des Jahres als Produkt auf den Markt zu bringen.

Der Preis dürfte dabei das kleinste Problem sein. Die Komponenten, die in ihm stecken, sind Standard-Elektronik, wie sie schon lange in Smartphones verwendet wird. Viel teurer als die Telefon-Gadgets von Apple und Samsung werden die Geräte deshalb nicht sein.

"Wir taxieren den Durchschnittspreis für derartige Brillen, nicht nur die von Google, auf 400 Dollar", sagt Theo Ahadome, Analyst von IHS Insight. Das Unternehmen zerlegt regelmäßig Verbraucherelektronik, um die Herstellungskosten abzuschätzen.

Schwieriger wird es sein, Massen von Kunden zu finden. Google müsse seine Brille noch einmal neu erfinden, damit sie auch in der Modewelt bestehen könne, sagt der Designer Blake Kuwahara. Ein Computer im Gesicht reiche nicht. "Es ist offensichtlich, dass das Gerät von Industriedesignern entworfen wurde", sagt Kuwahara, der selbst für große Modehäuser Brillen designt hat. "Wenn jemand das die ganze Zeit tragen soll, muss es Verbesserungen in der Ästhetik und im Styling geben." So mache es den Eindruck eines technischen Geräts und nicht eines Modeaccessoires.

Die größte offene Frage ist jedoch, was eigentlich die berühmte "Killer App" für die Google Glass sein soll. Google sieht Anwendungen als Navigationsgerät beim Reisen oder als Möglichkeit, Videos von Erlebnissen mit Freunden in Echtzeit auszutauschen. Dieser Vorschlag hat dem Prototypen einige Schlagzeilen beschert - doch springen die Menschen darauf an? All das, was Google Glass können soll, lässt sich schon jetzt mit einem Smartphone erledigen.

Diese Schwierigkeiten sind wohl auch Sergey Brin nicht entgangen. Deshalb hat er offen nach Vorschlägen gefragt. Seit vorletzter Woche läuft zudem ein Wettbewerb, in dem sich Google-Plus-Nutzer mit interessanten Nutzungsideen um eine Brille bewerben können. Auf der TED-Konferenz im Februar hat Brin hervorgehoben, wie schrecklich Smartphones doch eigentlich seien. Sie würden ihre Träger "enteiern", weil die dauernd gebeugt, mit dem Kopf nach unten rumliefen, während sie mit den Fingern auf einem Stück Glas rumreiben. Google Glass hingegen würde wieder die Augen "freisetzen".

Bereits letzten Sommer hatte Brin potenziellen Testern 1500 Dollar angeboten, wenn sie interessante Experimente mit dem Gerät machen würden. Einige Entwickler unterzeichneten daraufhin Geheimhaltungsvereinbarungen und wurden im Februar in San Francisco hinter verschlossenen Türen mit der Technologie bekannt gemacht.

Programmierer haben jedoch bislang keine Erfahrung mit vergleichbaren Geräten. Wer hier innovativ sein wolle, müsse erst einmal einige grundlegende Konventionen der moderen Computertechnik über Bord werfen, sagt Mark Rolston, Chefkreativer bei Frog Design. Die Firma hat in den vergangenen Jahrzehnten mit vielen namhaften Herstellern von Verbraucherelektronik und Computern zusammengearbeitet.

Mobile Rechner würden heute wie Werkzeugkoffer benutzt, sagt Rolston. Apps seien die Werkzeuge, die bei Bedarf ausgepackt werden. "Wenn Sie einen Computer 'tragen', müssen Sie das App-Modell aufgeben." Das Gerät müsse vielmehr auf die Umwelt abgestimmt werden, so dass es sich natürlich anfühlt, nicht wie ein Computer, mit dem man interagiert.

Aus den bislang wenigen Demonstrationen der Technologie kann man entnehmen, dass man das auch bei Google so sieht. Zwar befindet sich am Brillenrand ein Touchpad, mit dessen Hilfe man sich durch Menüs bewegen kann. In den Demos steuern die Nutzer die Brille jedoch über Sprachbefehle wie "Foto machen". Das Android-Betriebssystem für Smartphones und Tablet-Rechner hat Google bereits behutsam von der App-zentrierten Ausrichtung wegbewegt. Google Now, eine Kernfunktion der neuen Android-Version, liefert beispielsweise in Echtzeit Ankunft- und Abfahrtzeiten an Haltestellen. Das passt schon eher zur Google Glass.

In eine solche Nutzung ließen sich auch Anzeigen einbauen, die zwischendurch eingeblendet werden. Babak Parviz, der Leiter der Google-Glass-Entwicklung, betont bislang aber, man habe keine Pläne für Werbung in der AR-Brille.

Völlig offen ist auch, ob es Google gelingen wird, Menschen ohne Brille zum Tragen des Geräts zu bewegen. Entscheidend werde am Ende sein, wie die Menschen Google Glasses tragen, sagt Rolston. Es dürfte gewöhnungsbedürftig sein, sich auf einen Gesprächspartner oder eine Präsentation zu konzentrieren, während Informationen durch das Brillendisplay laufen.

"Wir müssen da erst die sozialen Grenzen kennenlernen, wann man andere ignorieren darf, weil man offenbar etwas zu tun hat", sagt Rolston. "Hinweise wie das Zücken des Smartphones funktionieren dann nicht mehr."

(nbo)