Beruhigende Horrorzahlen

Schäden von fast der Hälfte der Wirtschaftskraft: Japans Regierung kalkuliert extreme Kosten für ein mögliches Megabeben in der Nankai-Senke ein. Dies ist ein großer Fortschritt in einem Land, in dem Worst-Case-Szenarien so lange vermieden wurden, bis Tsunami und Atomkatastrophe kamen.

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Von
  • Martin Kölling

Schäden von fast der Hälfte der Wirtschaftskraft: Japans Regierung kalkuliert extreme Kosten für ein mögliches Megabeben in der Nankai-Senke ein. Dies ist ein großer Fortschritt in einem Land, in dem Worst-Case-Szenarien so lange vermieden wurden, bis Tsunami und Atomkatastrophe kamen.

Wer in Japan lebt, muss einen Waffenstillstand mit der Angst abschließen. Wir alle wissen, dass jederzeit ein Beben kommen und uns unser Haus oder gar unser Leben nehmen kann. Wie die Tsunami-Katastrophe von 2011 gezeigt hat, gibt es keine 100-prozentige Sicherheit. Dennoch hat bei amtlichen Planspielen ein interessanter psychologischer Wechsel stattgefunden.

Bevor die Dreifach-Katastrophe alle amtlichen Szenarien als maßlose Untertreibung entlarvte, wollte die Obrigkeit die Untertanen durch Ignoranz beruhigen. Nach dem Motto "Wenn man schlechtes denkt, passiert es auch" wurden keine Worst-Case-Szenarien aufgestellt, sondern die Kriterien für Simulationen von Atomunfällen oder Erdbeben so gewählt, dass sie nicht oder nicht zu sehr aufregten. Für Atomunfälle wurde die Chance geradeheraus mit Null in die Formeln eingegeben, weil der offiziellen Propaganda zufolge Atomkraft absolut sicher war. Bei Erdbeben ging das nicht, weil das Kobe-Erdbeben von 1995 mit mehr als 6000 Toten die Menschen gelehrt hatte, dass Erdbeben auch in der Neuzeit Leben kosten können. Also wählte man die Parameter so, dass sie intellektuell noch zu rechtfertigen waren, aber der Schaden nicht allzu groß ausfiel.

Dass mit diesem Denken nun Schluss ist, zeigte am Montag die Prognose für ein Megabeben in der Nankai-Senke vor der Küsten Japans, das das Land jederzeit treffen könnte. Ein Regierungsausschuss stockte die Magnitude von 8,8 auf 9 auf der Richterskala auf – und die Schäden auf bis zu 220.000 Milliarden Yen (1775 Milliarden Euro), mögliche Kosten einer weiteren Atomkatastrophe nicht eingerechnet. Die Zahl der Evakuierten könnte eine Woche nach dem Beben auf 9,5 Millionen Menschen anschwellen. Die Zahl der möglichen Todesopfer eines Nankai-Erdbebens bezifferte die Regierung bereits voriges Jahr auf 320.000 Menschen, in der Simulation von 2003 waren es nur 24.700. Zum Vergleich: Die Schadenssumme entspricht fast der Hälfte des japanischen Bruttoinlandsprodukts und mehr als dem zehnfachen des gleichstarken Bebens, das am 11. März 2011 an der Nordostküste Japans etwa 19.000 Menschenleben gekostet und die Atomkatastrophe von Fukushima ausgelöst hat.

Dass das Nankai-Erdbeben so schwer zu Buche schlagen könnte liegt zum einen daran, dass das Epizentrum sehr viel näher an der Küste liegen würde als 2011. Zum anderen würde es das sehr dicht besiedelte industrielle Herz Japans treffen und keine extrem dünn besiedelte, strukturschwache Küstenregion. Nicht nur Japans zweitgrößte Industriemetropole Osaka liegt im potenziellen Krisengebiet, sondern auch die Millionenstadt Nagoya – und Toyota-City, der wichtigste Produktionsstandort Toyotas. Zudem wäre das Beben so stark, dass es nach Meinung der Experten in insgesamt 40 der 47 Präfekturen des Landes zu mehr oder weniger schweren Erdbebenschäden kommen würde. Selbst in Tokio würde die Erde doppelt so stark beben wie 2011. Keine angenehme Vorstellung. Denn damals empfanden viele Menschen hier schon Todesangst.

So erschreckend die Zahlen sind, haben sie auch etwas Gutes: Da die amtlichen Simulationen die Grundlage für die Katastrophenplanungen sind, werden die Schutzmaßnahmen nun noch weiter ausgebaut werden. Und dieses Denken zieht sich immer weiter durch die Gesellschaft – bis hin zur Sicherheitspolitik. In der Vergangenheit wurden mögliche Kriegs- oder Terrorszenarien nicht durchgeplant, weil man die Bevölkerung nicht verunsichern wolle, erklärte jüngst Sanae Takaichi, die Vorsitzende des Politikausschusses der regierenden Liberaldemokratischen Partei.

In Zukunft werden klarere Antworten auf mögliche Krisen formuliert werden, verspricht die extrem konservative Politikerin. Leider findet sich eines der ersten Produkte der neuen Denke in der Sicherheitspolitik wieder: Gemeinsam mit dem Alliierten USA wollen Japans Militärs planen, wie unbewohnte, seit mehr als Hundert Jahren von Japan kontrollierte und seit einigen Jahrzehnten von China beanspruchte Felseninseln gegen China verteidigt werden können. (bsc)