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Was war. Was wird.

Visionen, ja, das ist was für Leute von gestern, für Leute vom Schlage eines Bill Gates, beklagt Hal Faber. Der Weg nach vorn ist heutzutage gepflastert mit immersiver Technik, die den Vordenkern der neuen Zeit keine Anmerkung mehr wert ist.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Frühling, ja, es ist Frühling. Da möchte man doch seine Ruhe haben und genießen. Aber sie lassen einem nicht in Ruhe, diese Internet-Vordenker. Dabei ist es schon eine Weile her, dass ein führender IT-Lenker Visionen hatte und nicht zum Arzt ging. Im Jahre 1995 erschienen Bill Gates' Gedanken über die "Zukunft der Informationsgesellschaft" unter dem Titel "The Road Ahead" bzw. "Der Weg nach vorn". Die erste Version des "Klassikers" zeigte die Verpeilung von Microsofts Chefdenker, der das Buch mit seinem Cheftechnologen Nathan Myhrvold und dem Journalisten Peter Rinearson verfasst hatte: Das Internet kam in wenigen Absätzen vor und wurde als Vorläufer des Information Highways beschrieben, auf dem sich Angebote wie "The Microsoft Network" (MSN) tummeln sollten. MSN wurde im August 1995 gestartet, erwies sich aber recht bald als Flop. Die US-amerikanische Taschenbuchausgabe des Buches musste deshalb umgeschrieben werden, weil sich Ende 1995 abzeichnete, dass das Internet das Rennen machen wird und nicht die gedrosselten und behüteten "walled gardens" wie MSN oder AOL.

*** In Deutschland fiel der Startschuss am 1. September 1995, als die Deutsche Telekom eine CD mit dem Netscape-Browser für Windows und OS/2 auf die Vorderseite ihres hauseigenen Btx-Magazins com! pappte und "Internet für alle – Btx startet durch!" feierte. 1,2 Millionen Deutsche installierten den Browser bis Anfang 1996, nur 50.000 meldeten sich bei MSN an: So machen die Menschen Geschichte, und dies aus freien Stücken. Ganz nebenbei startete Btx nicht durch, sondern verödete: die Verteilung der CD war der Anfang vom Ende. Landauf, landab schwillt er an, der Protest über die Grenzwertziehung der Telekom, die in dieser Woche bekannt wurde. Ist nun die Maske gefallen oder finden wir uns in den Fasern der Next Generation Networks wieder, in denen die Telekom freundlich und fair an der Seite ihrer Kunden steht? Kommt eine unverhoffte Variante der Vorratsdatenspeicherung light und steht nicht gar die Netzneutralität auf dem Spiel, wenn das Internet funktional kaputtgemacht wird? Der Weg nach vorn ist mit vielen Fragen gepflastert.

*** Im Jahre 2013 ist Microsoft eine andere Adresse, die Visionen haben die neuen Super-Marktmächte wie Google und Facebook. Niemand geringeres als Eric Schmidt von Google hat zusammen mit dem Berater Jared Cohen ein Zukunftsbuch geschrieben, das deutsche Edelfedern so nachhaltig verunsichert, dass sie die Laissez-faire-Politik Europas verurteilen und zum Aufstand gegen das Monster rufen: Nun tut doch endlich was! Es erinnert an den Aufruf der Datenschutzwächter:Zerschlagt Google! Lustig ist, dass das Kapitel über die Leaks von Wikileaks selbst schnell geleakt wurde.

*** Was wirklich an dem Buch von Schmidt und Cohen erstaunt, ist die Tatsache, wie wenig Visionen es für den Leser bereithält – und wie viele davon bereits im Buch von Gates vorhanden sind. Das intelligente Haus (der Gates-Familie), die personalisierte Medizin (für den vermögenden Durchschnittsamerikaner), der intelligente Verkehr. Es ist alles da und wenig überraschend. Dafür, dass hier jemand von einer Firma schreibt, die gerade ihre Datenbrille vorstellt, ist die Zukunft schon wieder Vergangenheit. Derweil wird mit den Glasses die German Product Angst aufgelöst und der Scoble-Guru gerät ins Schwärmen: "Ich werde niemals mein Haus ohne sie verlassen." Lieber lässt er sein Hirn ausgeschaltet als die neue Brille.

*** Beim richtigen Einstiegspreis, den Scoble irgendwo bei 200 Dollar ausmacht, könnte die Brille unseren Alltag revolutionieren, die entsprechende Tragepflicht für jeden Bürger vorausgesetzt. Denn schnell mal Bilder von Unbekannten machen, wird einfacher als je zuvor. In dieser Woche hat unser Bundesinnenminister das gemacht, was allen Innenministern in den Genen liegt. Er hat nach den Ereignissen in Boston die Verschärfung der Videoüberwachung gefordert, damit einmal erkannte Selbstmordterroristen beim zweiten oder dritten Anschlag enttarnt werden können. So entstehen große Zitate, über Selbsstmordattentäter, die zwei oder drei Mal zuschlagen, Zitate, die die Zeiten überdauern werden:

Friedrich: Einen Selbstmordattentäter, der seinen eigenen Tod bei der Planung der Tat einkalkuliert, werden auch Videokameras nicht abschrecken.

Spiegel Online: Also sind die Kameras gegen Terror unwirksam?

Friedrich: Das wäre ein falscher Schluss. Wenn wir zum Beispiel den Täter nach dem ersten Mal verhaften, kann er kein zweites oder drittes Mal zuschlagen. Allein das ist schon ein Erfolg. Zudem können wir Planungen für Anschläge durch Kameras im Vorfeld aufklären. Ich bleibe dabei: Die Videoüberwachung, wohlgemerkt als Teil einer komplexen Sicherheitsstrategie, ist ein wichtiges Mittel für uns.

*** Man lebt nur einmal, erst recht als echter Selbstmordattentäter, was die Brüder in Boston explizit nicht waren. Aber bitte, wer kennt denn noch Goethes Clavigo über die nachlassende Qualität im Journalismus: "Man lebt nur einmal in der Welt, hat nur einmal diese Kräfte, diese Aussichten, und wer sie nicht zum besten braucht, wer sich nicht so weit treibt als möglich, ist ein Tor." Hätten die Spiegel-Redakteure nicht nachfragen müssen? Wahrscheinlich wird das abgehalfterte "Sturmgeschütz der Demokratie" auch noch jubeln, wenn Innenminister Friedrich die flächendeckende Überwachung der Verfassungsrichter anordnet, die so frech sind, das Recht der freien Meinungsäußerung für sich in Anspruch zu nehmen. Freuen wir uns auf die Zeit, in der jeder als Brillenwart mit Google Glasses sein Scherflein für die Verbesserung der Inneren Sicherheit leistet. Politik heute, dass ist das Backen kleiner Brötchen.

Was wird.

Wie war das noch mit den großen Visionen? Im Gates-Buch "Weg nach vorn" findet sich kein einziger Satz über kommende Kriege und Kämpfe, ganz zu schweigen von möglichen Cyberkriegen. Das sieht bei Eric Schmidt und Jared Cohen schon ganz anders aus. Hier gibt es ein ganzes Kapitel über Hacker als Cyber-Terroristen, die uns im Namen dubioser Staaten bedrohen. Wer genau, das bleibt offen, denn China will nicht vergrault werden und Nordkorea ist das Land, das beide Autoren für die Buch-Recherche besucht haben. Unter Anleitung des großen Führers entsteht ein koreanisches Linux, das den Weltmarkt erobern soll.

Weil der Krieg der Vater aller Dinge ist, sind Kampfdrohnen seine Töchter. Bemannte Flugzeuge sind sowas von gestern, den Drohnen gehört die Zukunft, jedenfalls nach Meinung der CDU/CSU. In der aktuellen Debatte dieser Tage klang es noch etwas harmloser, schließlich läuft der Wahlkampf an. Da macht es sich nicht so gut, über einen Kauf des Predator oder Reaper aka Predator B zu reden, mit denen die Zukunft der militärischen Fliegerei anfangen soll. In Großbritannien, das bisher seine Drohnen von den USA aus steuerte, geht nun zum Mai der erste eigene Leitstand in Betrieb und stolz nennt man Zahlen zu den Aufklärungsdrohen: 45.000 Stunden geflogen, "nur" 350 Raketen abgefeuert – wir leben in friedlichen Zeiten. Übrigens will Israel das erste Land sein, in dem das "bemannte Kampfflugzeug aus den militärischen Arsenalen verschwindet", wie es die CDU/CSU wünscht. Schließlich sind alle kampftauglichen Drohnen israelischen Ursprungs, auch Predator und Reaper.

Heraus zum 1. Mai! Der Kampftag der Arbeiterklasse naht und mit ihm das übliche Verbalgetöse. Wie wäre es mit der Erinnerung, dass die Fünftagewoche von der Zigarettenindustrie 1956 eingeführt wurde, gefolgt von den Verlagen und der Druckindustrie anno 1965 und den Metallern anno 1967. Die IT-Branche folgte erst im Jahre 1995, als Bill Gates seine Visionen hatte. Unter dem Stichwort Arbeitsplatz findet sich bei Gates dieser Satz: "Gemessen an anderen Revolutionen ist diejenige, die der PC ausgelöst hat, bemerkenswert gnädig mit den Menschen umgegangen." Wer den Begriff bei Schmidt und Cohen sucht, findet folgendes Statement über den Verlust lokaler Arbeitsplätze: "Globalization's critics will decry this erosion of local monopolies, but it should be embraced, because this is how our societies will move forward and continue to innovate." So einfach ist das, ihr Lokalmonopolisten.

Heraus, heraus zum 1. Mai! Diesmal sind die Mainelken etwas spät dran und noch nicht pflückreif. Auch die Gewerkschaften haben Probleme, mit den Halbfinal-Rückspielen von Bayern und Dortmund in der Champignon-League. Probleme auch bei den Autonomen, denen nicht nur der höchstaufsichtsführende Gegner angesichts Grippe abhanden kommt. Auch die richtige Einstellung macht Sorgen. Handy hochhalten und mit dem Foto twittern, das ist der richtige Wurf im falschen Leben. In Berlin wagt man mehr Transparenz durch die Veröffentlichung der Demonstrationsrouten. Es wird überall von Hausdächern, Hubschraubern und Videodrohnen gefilmt, aber nicht gespeichert. Schande über den, der bei der "funktional gebotenen" Übersichtsaufnahme an etwas anderes denkt. (jk)