"Versteckte Risiken"

Was die Bundestagsabgeordneten unterließen, kommt nun von anderer Seite: die genauere Lektüre des ESM-Vertrages und das Erschrecken über neue Dimensionen der Haftung und fehlende Einspruchs-und Kontrollmöglichkeiten

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Verträge sind eine mühsame Lektüre; hinter harmlos scheinenden Formulierungen verstecken sich nicht selten Falltüren und finanzielle Abgründe. Doch kann man den deutschen Delegierten, die an den Verhandlungen über den ESM-Vertrag beteiligt waren, nicht den Naivitätsbonus eines Erstsemester-BWL-oder Jura-Studenten einräumen. Und auch nicht den Abgeordneten, die den Vertrag kürzlich im Bundestag abgesegnet haben. Zudem müssten im Haushalt Gelder für Vertragsspezialisten vorhanden sein, die einen Vertragstext von 62 Seiten genau nach solchen versteckten Risiken abklopfen können.

Expertisen, zum einen vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags und zum anderen von Stefan Homburg, Professor für Öffentliche Finanzen, führen nun vor, dass laut Vertrag zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) die Haftung für Deutschland um Einiges höher ausfallen kann, als die Regierung bislang vorgab. Dass der ESM "unbeschränkt Kredite aufnehmen" kann, dass die Einrichtung "jeder administrativen, gerichtlichen oder gesetzlichen Kontrolle entzogen" ist - und dass das Vetorecht des Bundestages leichterdings ausgehebelt werden kann.

Unwissende Abgeordnete?

Das hätte eigentlich jedem der Abgeordneten und der Regierung klar sein müssen. Es scheint ganz so, als ob das keiner gelesen hat. Nun kommt die Aufklärung hinterdrein. Laut einer "vertraulichen Expertise" des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, aus welcher die WAZ zitiert, kann sich Deutschland nicht sperren, sollte es einen Kapitalaufruf geben, der nötig wird, sollte das bare Stammkapital von 80 Milliarden Euro ausgeglichen werden müssen. Solche Verluste beim Rettungsfond können nach bisheriger Erfahrung der letzten Krisenjahre nicht ausgeschlossen werden.

Haftungsrisiken

Nach dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes genügt für den Fall, das nach einer „Operation“ das bare Stammkapital aufgefüllt werden muss, eine einfache Mehrheit des ESM-Direktoriums, um den Kapitalsausgleich abzurufen. Deutschland habe nur 27 Prozent der Stimmrechte, nicht genug für ein Veto, um sich gegen die Forderung nach mehr Kapital zu sperren. Aufgestockt werden müsste, so der Zeitungsbericht, gemäß des Anteils Deutschlands an der Einlage - im Extremfall, sollte alles erschöpft sein, den gesamten bisherigen Anteil: "erneut bis zu 21,7 Milliarden Euro innerhalb von zwei Monaten". Der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, der das Gutachten angefordert hat, warnte vor der Möglichkeit, dass Deutschland zur Zahlung zweistelliger Milliardenbeiträge verpflichtet werden könnte. Als Konsequenz aus den hohen Zahlungsverpflichtungen könnten Sozialkürzungen drohen.

Geht es nach der detaillierten Lektüre des ESM-Vertragstextes, wie sie Stefan Homburg in der FAZ vorführt, dann ist die Rede von einer Belastungsobergrenze, deren Existenz Regierungsmitglieder fortwährend betonen, eine Irreführung der Öffentlichkeit.

"Der Vertrag beschränkt die Haftung nicht auf das Kapital zum Nennwert, das zusammen 700 Milliarden Euro beträgt, sondern auf das Kapital zum Ausgabekurs. Die Unterscheidung ist eminent wichtig, weil der Gouverneursrat beschließen darf, dass der Ausgabekurs den Nennwert übersteigt (siehe Artikel 8 Absatz 2). Die Haftungssumme kann so über 700 Milliarden Euro hinausgehen."

Dazu kommt, so Homburg, der die Klägerseite bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berät, dass der ESM über die Gelder, die von den Mitgliedstaaten verlangt werden, hinaus "unbeschränkt Kredite aufnehmen" dürfe - auch durch Emission von Schuldverschreibungen am Kapitalmärkten. Dadurch würden in der Realität Eurobonds eingeführt. Auch dies hat Auswirkung auf die Haftung. Wie auch die "Nachschusspflicht", die eintritt, wenn ein Mitglied des ESM nicht mehr dazu imstande sein, den Einzahlungspflichten nachzukommen. Die anderen sind dann dazu verpflichtet, dies zu kompensieren.

Der Kontrolle entzogen

Doch sieht nicht nur die Haftung laut Vertragstext anders aus, als von der Bundesregierung dargestellt, es zeigt sich auch, dass der ESM eine sehr viel weitergehende Autonomie besitzt, als dies bislang erklärt wurde. Zum einen gibt es da das Instrument der "Dringlichkeitsbeschlüsse des Gouverneursrats", die ausdrücklich erlaubt sind und der Bundestag erst post factum um Zustimmung gefragt wird. Zum anderen zeige sich im Vertrag, dass der ESM die Liste der bisher vorgesehenen Finanzinstrumente durch Beschluss jederzeit erweitern könne.

Darüber hinaus betont Homburg das Fehlen der Kontrolle. Sämtliche Tätigkeiten des ESM seien jeder administrativen, gerichtlichen oder gesetzlichen Kontrolle entzogen. "Der Vertrag eliminiert das Kontrollrecht vollständig."

Nachtrag: Eine Banklizenz, wie sie jetzt gefordert wird, brauche der ESM gar nicht, so der Professor für Öffentliche Finanzen. Die Diskussion sei überflüssig: "Der ESM ist von jeder Zulassungspflicht und Lizenzierungspflicht als Kreditinstitut befreit."